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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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nicht die Hand sehen, die diese verschleierten Augen befühlt. Kugeln, das fühlte ich. Wenn man sich traut, kann man sogar vorsichtig hineinkneifen. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, daß ich nach all den vielen Jahren, die ich auf der Welt bin, noch immer nicht weiß, woraus ein Auge eigentlich besteht. Hornhaut, Netzhaut sowie Iris und Linse, aus denen in jedem Kryptogramm eine Blume und eine Hülsenfrucht wird, die kannte ich, aber das eigentliche Zeug, diese zähe Masse aus erstarrtem Gelee, die hat mir immer Angst eingejagt. Ich wurde unweigerlich ausgelacht, wenn ich von Gelee sprach, und doch sagt der Herzog von Cornwall, als er in King Lear dem Grafen von Gloucester die Augen ausreißt: out! vile jelly! , und genau daran mußte ich denken, als ich in diese nichtssehenden Kugeln kniff, die meine Augen waren oder nicht waren.
    Lange Zeit blieb ich so liegen und versuchte, mich an den vergangenen Abend zu erinnern. Es ist nichts Aufregendes an den Abenden eines Junggesellen, wie ich einer bin, sofern ich zumindest derjenige war, um den es hier ging. Manchmal sieht man das, einen Hund, der sich in den eigenen Schwanz zu beißen versucht. Dann entsteht eine Art hündischer Wirbelwind, der erst aufhört, wenn aus diesem Sturm der Hund als Hund hervortritt. Leere, das ist es, was man dann in diesen Hundeaugen sieht, und Leere war es, was ich in jenem fremden Bett empfand. Denn angenommen, daß ich nicht ich war und folglich jemand anders (niemand zu sein, dachte ich, würde zu weit gehen), dann würde ich bei den Erinnerungen jenes anderen doch denken müssen, daß es meine Erinnerungen seien, schließlich sagt jeder »meine« Erinnerungen, wenn er seine Erinnerungen meint.
    Selbstbeherrschung habe ich leider immer besessen, sonst hätte ich vielleicht geschrien, und wer dieser andere auch war, er verfügte über dieselbe Eigenschaft und verhielt sich still. Kurz und gut, derjenige, der da lag, beschloß, sich nicht um seine oder meine Spekulationen zu kümmern, sondern sich an die Arbeit des Erinnerns zu machen, und da er, wer immer er auch war, ich zu sich selbst sagte in jenem Lissabonner Zimmer, das ich natürlich verdammt gut wiedererkannte, erinnerte ich mich an folgendes, den Abend eines Junggesellen in Amsterdam, der sich etwas zu essen macht, was in meinem Fall auf das Öffnen einer Dose weißer Bohnen hinausläuft. »Am liebsten würdest du sie auch noch kalt aus der Dose essen«, hat eine alte Freundin einmal gesagt, und da ist etwas dran. Der Geschmack ist unvergleichlich. Nun muß ich natürlich alles mögliche erklären, was ich tue und was ich bin, doch damit warten wir vielleicht noch etwas. Nur soviel – ich bin Altphilologe, ehemaliger Studienrat für alte Sprachen, oder, wie meine Schüler es ausdrückten, alter Studienrat für Sprachen. Dreißig oder so muß ich damals gewesen sein. Meine Wohnung ist voll von Büchern, die mir erlauben, zwischen ihnen zu leben. Das ist also die Kulisse, und der Hauptdarsteller gestern abend war: ein ziemlich kleiner Mann mit rötlichem Haar, das jetzt weiß zu werden droht, zumindest wenn es die Chance dazu noch bekommt. Ich benehme mich anscheinend wie ein englischer Stubengelehrter aus dem vorigen Jahrhundert, ich wohne in einem alten Chesterfield, auf dem ein uralter Perser liegt, damit man die hervorquellenden Eingeweide nicht zu sehen braucht, und lese unter einer hohen Stehlampe direkt vorm Fenster. Ich lese immer. Meine Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite der Gracht haben mal gesagt, sie seien immer froh, wenn ich wieder im Lande sei, weil sie mich als eine Art Leuchtturm betrachten. Die Frau hat mir sogar anvertraut, daß sie manchmal mit einem Fernglas zu mir hinüberschaut. »Wenn ich dann nach einer Stunde wieder schaue, sitzen Sie noch genauso da, manchmal denke ich, Sie sind tot.«
    »Was Sie als Tod bezeichnen, ist in Wirklichkeit Konzentration, gnädige Frau«, sagte ich, denn ich bin ein Meister im abrupten Beenden unerwünschter Unterhaltungen. Doch sie wollte wissen, was ich so alles läse. Das sind wunderbare Momente, denn dieses Gespräch fand in unserer Eckkneipe De Klepel statt, und ich habe eine kräftige, manche sagen sogar aggressive Stimme. »Gestern abend, gnädige Frau, las ich die Charaktere von Theophrast und danach noch ein wenig in den Dionysiaka von Nonnos.« Für einen Augenblick wird es dann still in einer solchen Kneipe, und man läßt mich künftig in Frieden.
    Doch jetzt geht es um ein anderes Gesternabend. Ich

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