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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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»Jahrelang habe ich da die Beichte abgenommen. Das brauchten Sie zumindest nie zu tun.« Das stimmte. Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
    »Wenn ich den Dom aus der Sakristei betrat, war mir schon übel. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ein Putzlumpen auf dem Boden, an dem die Leute ihre Leben abstreiften. Sie wissen nicht, wozu Menschen imstande sind. Sie haben auch nie diese Gesichter aus so großer Nähe gesehen, diese Scheinheiligkeit, Geilheit, die miefigen Betten, die Geldgier. Und immer wieder kamen sie zu mir, und immer wieder war man gezwungen, ihnen zu vergeben. Aber dadurch wurde man auf grauenhafte Weise mitschuldig, man wurde ein Teil der Beziehung, die sie nicht lösen konnten, ein Teil der Schmierigkeit ihres Wesens. Ich bin geflüchtet, ich bin ins Kloster gegangen, ich konnte menschliche Stimmen nur noch ertragen, wenn sie sangen.« Und auch jetzt war er davongetanzt.
    Dieser Platz da an der Reling war mein Beichtstuhl. Ich hatte entdeckt, daß die anderen von selbst kamen, wenn man sich stets an denselben Platz stellte. Nur Alonso Carnero kam nie. Er hatte seinen eigenen Platz. Einmal war ich zu ihm gegangen. Die Frau hatte neben ihm gestanden, gemeinsam blickten sie in das schwarze Loch der Nacht. Es waren keine Sterne zu sehen, und zum erstenmal hatte ich ein körperliches Gefühl von Unterwelt. Je länger die Reise dauerte, desto realer schien alles zu werden, was ich der Klasse früher einmal als Dichtung vorgetragen hatte. Der Ozean war, wie Phaëthons Todesfahrt, eine meiner Glanznummern gewesen, ich konnte ihn sogar nachmachen, wie er schwarz und böse und sich bewegend die flache Erde umschlang, das angsteinflößende Element, in dem die bekannten Dinge ihre Konturen verlieren, das formlose Überbleibsel der Urmaterie, aus der alles entstanden war, das Chaos, die gefährliche Schattenseite der Welt, das, was unsere Vorfahren die Sünde der Natur genannt hatten, die ewige Drohung einer neuen Sintflut. Und dahinter, im Westen, wo die Sonne unterging und das Licht sich davonstahl und die Menschen diesem anderen formlosen Element, der Nacht, überließ, lag das Meer, in dem Atlas stand und das seinen Namen trug, und dahinter das dunkle Land des Todes, der Tartaros, wohin Saturn verbannt worden war, Saturno tenebrosa in Tartara misso 7 , ich glaube nicht, daß ich je werde klarmachen können, mit welcher Wollust ich Latein aussprach. Es hat etwas mit körperlichem Genuß zu tun, eine umgekehrte Form des Essens.
    Ach, was für ein alberner Sokrates war dieser Lehrer, der eines Tages, als es stürmte, seine Schüler ans Meer mitnahm, die paar, die nicht vor Lachen umfielen. Mit dem Zug in die Unterwelt, aber als wir weit draußen auf der Pier standen, war es wirklich genug, die wütende See schlug gegen den Basalt, als wollte sie ihn fressen, der Himmel hing voller Unheilwolken, der Regen peitschte unsere kleine Fünfergruppe, und zwischen dem Gekreische der Möwen machte ich Überstunden und schrie durch den Sturm nach Westen, und natürlich lag dort hinter den tosenden Wassermassen die geheime Schattenwelt mit ihren vier tödlichen Flüssen. Bei allem, was ich rief, schrien die Möwen wie Rachegöttinnen ihre Echos von Orpheus und Styx, und ich erinnere mich an das weiße, durchscheinende Gesicht meiner Lieblingsschülerin, weil in solchen Gesichtern die Fabeln wahr werden. Ich stand der Generation des verschwiegenen Tods gegenüber und brüllte wie ein verrückt gewordener Kobold von ewigen Nebeln und Untergang, Sokrates an der Nordsee.
    Am nächsten Tag hatte Lisa d’India mir ein Gedicht gegeben, etwas über Sturm und Einsamkeit, ich hatte es zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt, es hatte keine Form , es ähnelte der modernen Poesie, wie man sie in Literaturzeitschriften liest, und weil ich das nicht sagen wollte, hatte ich gar nichts gesagt, und jetzt fragte ich mich hier, an Bord dieses Schiffes, wo dieses Gedicht geblieben war. Irgendwo zwischen all meinen Papieren, irgendwo in einem Zimmer in Amsterdam.
    Er hatte ihre Augen, der Junge. Lateinische Augen. Er sah, wie ich auf ihn zukam, wandte den Blick nicht ab. Als ich dicht bei ihm war, nahm die Frau ihre Hand von seiner Schulter und verschwand, es war, als löste sie sich auf.
    »Unsere Führerin«, hatte Captain Dekobra sie einmal genannt, mit einer Mischung aus Spott und Ehrfurcht. Sie war da und war nicht da, doch – ob anwesend oder abwesend – sie war diejenige, die uns beisammenhielt, die

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