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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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darin komme auch ein Schiff vor, das den Amazonas hinauffuhr, die Esmeralda. Gold und Holz, darüber wisse er alles. Das Gold werde bleiben, das Holz nicht. »Wenn man in hundert Jahren wieder hierherkommt, ist das eine große Wüste, schlimmer als die Sahel-Zone. Dann ist es erst so richtig das Ende der Welt, ein leergeschlürfter Sumpf, ein versteinerter Sandkasten.«
    Er sprach weiter, doch ich mußte wohl der Großmeister der Levitation sein, denn unter mir fuhr das Schiff, ein kleines Boot auf dem weiten Wasser. Es zeichnete ein einfaches V hinter sich, einen Keil, der immer breiter wurde. Eine Seite mit nur einem Buchstaben, der mir nun schon eine Reise lang etwas erzählen wollte. Aber was? Ich sah die fernen Ufer wie zwei weite Arme, die sich vielleicht um das Schiff schließen würden, um uns so für immer bei sich zu behalten, ich sah mich selbst, ich sah das begrenzte Sternsystem meiner Reisegefährten, drei Zwillinge, einer allein, ich sah, wie die Frau sich von dem Jungen löste und sich auf ihrer eigenen Bahn, unabhängig von den anderen, bewegte, aber auch, wie sie die anderen in ihrer Bahn mitzog, als wäre dies ein Naturgesetz, wie die beiden alten Männer ihr fast tänzelnd folgten, wie der Captain sein Fernglas sinken ließ und ihr nachging, wie Harris sich von mir löste, wie mein von mir getrenntes Ich dort unten sich langsam, zögernd der Prozession anschloß, während ich da oben wie ein Ballon in immer größere Höhen aufstieg und sah, wie immer mehr Fluß verschwand und immer mehr Land in Sicht kam, grünes, gefährliches, schwitzendes Land, eingehüllt in die Schwaden seiner eigenen Hitze, in die sich nun das Dunkel des plötzlich hereinbrechenden tropischen Abends mischte. Die Lichter von Belém sah ich, wie der Voyager die Erde zwischen den anderen leuchtenden Punkten und Flecken unseres Sonnensystems gesehen hatte. Jetzt war ich höher geflogen, als Sokrates in seiner Phantasie je gewesen war, er, der glaubte, man sähe das Paradies, wenn man sich nur weit genug über die Erde erhebe. Ich war höher als Armstrong, der den Mond entweiht hatte, ich mußte dieser siderischen Kälte entfliehen, ich mußte zurück an meinen Platz, in meinen seltsamen Körper.
    Ich war der letzte, der den Salon betrat. Alonso Carnero saß zu Füßen der Frau. Etwas an der Anordnung verriet, daß er der Mittelpunkt sein würde. Die beiden alten Männer sahen ihn wohlgefällig an, dieses Wort paßte. Unsere Körper schienen sich in ständigem Zweifel darüber zu befinden, ob sie echt sein wollten oder nicht, selten hatte ich eine Gruppe von Menschen gesehen, an denen so viel fehlte, ab und an verschwanden ganze Knie, Schulterpartien, Füße, doch unsere Augen hatten damit nicht die geringste Schwierigkeit, füllten die leeren Stellen aus, wenn es allzu schlimm wurde, vergruben sich in die des Gegenübers, als könnte dieses Verschwinden so gebannt werden. Nur sie blieb, wie sie war, der Junge sah sie an, sah sie die ganze Zeit an, während er zu sprechen anfing. Sie mußte ihm irgendein Zeichen gegeben haben, daß er anfangen solle.
    Anfangen? Dies war nicht das richtige Wort, und es kommt jetzt darauf an, die richtigen Worte zu wählen, du weißt das besser als ich. Er fing nicht an, er endete. Wie sagt man so etwas? Seine Geschichte war eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende, doch gleichzeitig war sie das Ende einer Geschichte, die wir in großen Teilen bereits kannten, seine Großmutter, die gemeinsam mit anderen Frauen des Dorfes von den Faschisten in Burgos erschossen worden war, und daß der Großvater seines besten Freundes zum Erschießungskommando gehört hatte und daß jeder im Dorf das wußte und auch wußte, daß die Frauen im letzten Augenblick ihres Lebens die Röcke gehoben hatten, als tödliche Beleidigung für die Soldaten, die in ebendem Augenblick schießen sollten, und daß seine Eltern ihm aus diesem Grund den Umgang mit seinem Freund nicht erlaubten, da diese Dinge nie und nimmer vergessen wurden, nicht, wo er lebte, so daß er und sein Freund, der Manolo hieß, sich bei Dunkelheit trafen und sich auch an jenem Abend getroffen hatten, von dem er erzählen wollte, von dem er erzählte in einer Litanei, einem langen Strom von Wörtern, daß er Manolo immer herausforderte, so wie Manolo ihn, und daß sie dabei immer weiter gingen und sich schon oft auf die Gleise gelegt hatten, wenn der Nachtexpreß von Burgos nach Madrid herandonnerte, und daß es dann darum ging, wer sich am

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