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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wenn sie immer da war, und konnte es nicht. Dann versuchte ich mich auf meine erste Unterrichtsstunde an diesem Tag vorzubereiten, Cicero, De amicitia , Kapitel XXVII, Abschnitt 104, die Stunde, die ich nie mehr halten sollte, und auch das konnte ich nicht. Ich löste den lateinischen Satz aus dem Gebäude seiner Konstruktion, schob Verbformen von hinten nach vorn (Meine Damen und Herren, ich serviere es Ihnen in mundgerechten Happen, eingerostet wie Sie in der Syntax Ihrer Muttersprache sind), aber ich konnte es nicht, ich wollte nicht, ich saß mit ihr im Zug, und nach einer Stunde war es auch für mich Zeit zu gehen. Alles sah anders aus, das Brückengeländer an der Gracht, die Treppe im Hauptbahnhof, die Weiden neben den Gleisen, sie schienen auf einmal auf unangenehme Weise von sich selbst besessen zu sein, die läppischsten Dinge hatten mir alles mögliche zu erzählen, die Welt der Gegenstände hatte es auf mich abgesehen, ich war also gewarnt, als ich ins Lehrerzimmer trat. Der erste, den ich sah, war Arend Herfst, und er wartete auf mich. Bevor ich wieder hinausgehen konnte, stand er schon vor mir. Er stank nach Alkohol und hatte sich nicht rasiert, derlei Dinge scheinen immer nach dem gleichen Muster ablaufen zu müssen. Der nächste Schritt ist Packen, Sich-über-einen-Beugen, An-den-Kleidern-Zerren, Schreien. Dann muß jemand kommen, der beschwichtigt, die Parteien trennt, sich dazwischenstellt. Der kam also nicht.
    »Herman Mussert, wir werden jetzt miteinander reden. Ich hab dir ’ne Menge zu sagen.«
    »Nicht jetzt, nachher, ich habe Unterricht.«
    »Dein Unterricht ist mir scheißegal, du bleibst hier.«
    Kein häufig vorkommendes Bild, ein Lehrer, der einem anderen hinterherrennt. Ich erreichte den Klassenraum mit Müh und Not, versuchte, so würdevoll wie möglich hineinzugehen, aber er zerrte mich wieder hinaus. Ich riß mich los und flüchtete auf den Schulhof. Für das Schauspiel war das ein brillanter Einfall, denn jetzt konnte die ganze Schule vom Fenster aus zusehen, wie ich zusammengeschlagen wurde. Nach Strich und Faden verprügeln, heißt das, glaube ich. Wie gewöhnlich konnte ich wieder alles gleichzeitig, fallen, mich aufrappeln, bluten, doch noch ein bißchen zurückschlagen, das Gebrüll registrieren, das aus diesem weit geöffneten Kalbskopf drang, bis ich auch den nicht mehr sah, weil er mir die Brille von der Nase geschlagen hatte. Ich tastete um mich, bis ich den vertrauten Gegenstand wieder in die Hand gedrückt bekam.
    »Hier ist deine Brille, du Arschloch!«
    Als ich sie wieder aufhatte, hatte sich alles verändert. Hinter allen Fenstern sah ich die weißen Gesichter der Schüler, Masken mit dem Ausdruck heimlicher Freude. Es war auch nicht schlecht, was da zu sehen war, ein riesiges steinernes Schachbrett mit fünf Figuren, von denen zwei stillstanden, denn während der Direktor sich auf mich zubewegte, lief Maria Zeinstra zu Arend Herfst, der seinerseits auf Lisa d’India zulief. Im selben Augenblick, in dem der Direktor bei mir angekommen war, hatte Herfst Maria Zeinstra mit soviel Schwung beiseitegestoßen, daß sie hinfiel. Bevor sie wieder auf den Beinen war, hatte der Direktor bereits gesagt: »Herr Mussert, Sie haben sich hier völlig unmöglich gemacht«, aber gleichzeitig hatte Herfst Lisa d’India beim Arm gepackt und begann sie mitzuzerren.
    »Arend!«
    Das war die Stimme, die mir erst an diesem Morgen gesagt hatte, daß sie zu mir ziehen wolle. Jetzt stand alles still. Ich wurde über die eingefrorene Szene hinausgehoben, und von oben sah ich es, als gehörte ich nicht dazu: der ältere Mann mit dem verzerrten Gesicht, der die Finger nach dem blutenden Mann ausstreckte, der an der Mauer lehnte, die rothaarige Frau mitten auf der freien Fläche, der andere Mann, der schwankte, und das Mädchen, das er im Klammergriff zu halten schien. Und in diese Stille hinein ertönte jenes idiotische Wort, mit dem die Schüler mich immer nannten.
    »Sokrates.«
    Es wollte etwas, dieses Wort. Es klagte und wollte nicht von diesem Schulhof verschwinden, es hing noch in der Luft, als diejenige, die es gerufen oder gesagt oder geflüstert hatte, längst weg war, in ein Auto gezerrt, das ein paar Kilometer weiter gegen einen Lastwagen prallen sollte. Nein, bei der Beerdigung bin ich nicht gewesen, und ja, natürlich hatte Herfst sich nur die Beine gebrochen. Und nein, von Maria Zeinstra habe ich nie mehr etwas gehört, und ja, Herfst und ich wurden beide entlassen, und das Ehepaar

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