Die Formel der Macht
Tablett eines vorbeikommenden Kellners und stürzte den Wein schnell hinunter, um zu verhindern, dass ihre Wut überkochte. Sie unterdrückte ihren Drang, sich in den nächsten Waschraum zurückzuziehen, obwohl sie nach Olivias verletzender Bemerkung über ihr Aussehen das heftige Bedürfnis verspürte, ihre Erscheinung im Spiegel zu überprüfen. Zum Teufel damit. Ihr langes mitternachtsblaues Kleid war neu, das Haar hatte sie sich zu einem modischen französischen Knoten frisiert – sie hoffte bei Gott, dass französische Knoten immer noch in Mode waren –, und außerdem hatte sie zehn Minuten mit Schminken vor dem Spiegel verbracht, was neuneinhalb Minuten länger war als normalerweise. Sie würde Olivias Boshaftigkeit nicht belohnen, indem sie sich von dem Gedanken beherrschen ließ, ob sie wirklich kaputt aussah.
Summer verhalf sich zu einem weiteren Glas kalifornischem Merlot – Olivia achtete streng darauf, dass auf ihren Empfängen nur die auserlesensten amerikanischen Produkte verwendet wurden – und machte mit einem Dutzend Leuten, die sie nicht kannte, die sie jedoch zu kennen schienen, höflich Konversation. Der Not gehorchend, hatte sie in der letzten Zeit lernen müssen, mit Fremden zu plaudern. Zu den vielen unerwarteten Auswirkungen der Ernennung ihres Vaters zum Außenminister gehörte unter anderem, dass sein Glanz bei Anlässen wie dem heutigen – ein Empfang zu Ehren des brasilianischen Außenministers – auf sie abstrahlte, auch wenn Insider wussten, dass sie und ihr Vater sich nicht wirklich nahestanden. Aber Menschen, die in die wahren Verhältnisse nicht eingeweiht waren, waren ganz wild darauf, mit Summer zu plaudern und so ihre Illusionen, ganz nah am Zentrum der Macht zu sein, zu nähren.
Während sie sich ihren Weg durch die mit Designerklamotten ausstaffierte Menge bahnte, wurde sie von einem Mitarbeiter ihres Vaters begrüßt, dann belegte eine Redakteurin von
Vanity Fair
sie mit Beschlag. Nachdem sie diese endlich losgeworden war, stürzte sich der Auslandsredakteur von
U.S. News and World Report
auf sie. Da sie aus leidvoller Erfahrung wusste, dass nichts, was sie je zu einem Journalisten gesagt hatte, unveröffentlicht geblieben war, weigerte sich Summer, einen Kommentar zu dem kürzlich im Fernsehen gesendeten Porträt ihres Vaters abzugeben, auch wenn der fragliche Sender ihre verstorbene Mutter zu einer radikalen Spinnerin abgestempelt hatte, die nur knapp einer Zwangseinweisung in eine Nervenheilanstalt entgangen war.
Endlich lief sie zu ihrer Erleichterung Rita Marcil, der Leiterin des Umweltressorts der
New York Times
, in die Arme. Es war das Beste, was ihr auf dieser Party passieren konnte. Rita war, wie sie Summer erzählte, eingeladen worden, damit der brasilianische Außenminister ihr “informell” berichten konnte, was für große Fortschritte Brasilien bei der Kontrolle der wirtschaftlichen Ausbeutung des Regenwaldes im Amazonasgebiet gemacht hatte.
“Hat man Sie überzeugt?”, fragte Summer. “Es wäre ein echter Coup für die brasilianische Regierung, wenn Sie einen positiven Artikel über das, was sich in Amazonien abspielt, schrieben.”
Rita zuckte die Schultern. “Ich bin durchaus bereit, es der brasilianischen Regierung abzunehmen, dass sie verspätete Anstrengungen unternimmt, die Region auf etwas verantwortungsvollere Weise zu erschließen, aber es ist zu wenig und zu spät. Im Moment bräuchte es schon wesentlich mehr als einen Sprücheklopfer auf einer Dinnerparty, um mich davon zu überzeugen, dass wir nicht bereits mit der ersten großen Umweltkatastrophe des einundzwanzigsten Jahrhunderts konfrontiert sind.”
Summer schüttelte den Kopf. “Wir hören heutzutage so viel darüber, wie klein unser Planet ist und dass wir alle voneinander abhängig sind, und doch scheint es in diesem Land immer noch Leute zu geben, die sich einen Dreck darum scheren, was mit der Umwelt in vielen Entwicklungsländern passiert.”
Rita lächelte zynisch. “Mein liebes Kind, wenn es schon die gewieftesten, bestbezahlten PR-Firmen in diesem Land nicht schaffen, wenigstens ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung zu Präsidentschaftswahlen an die Wahlurnen zu locken, haben wir keine große Chance, dass sich Otto Normalverbraucher für ein derart abseitiges Thema wie den Raubbau am brasilianischen Regenwald interessiert.”
“Aber das ist viel wichtiger als die Politik, die sie in Washington …”
Rita lachte aufrichtig belustigt, und Summer fiel
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