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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Interpretation oder der Wiedererkennung von Gesichtern; diese Symptomatik bezeichnet man als Prosopagnosie oder Gesichtsblindheit. 100 Allerdings wissen wir noch nicht, wie diese Gehirnregionen oder die Neurone darin ihre Interpretationsfähigkeit erwerben. Eine genaue Antwort darauf, wie wir Interpretationen vornehmen, lässt sich also im Moment noch nicht geben. Trotzdem können wir die Ansätze und Prinzipien, die wir bisher dargelegt haben, als Instrumentarium verwenden, um die beteiligten Fragen auszuloten.
    Wenn wir versuchen, ein weithin unbekanntes Gelände zu durchqueren, kann eine Strategie darin bestehen, in irgendeine Richtung loszugehen, um überhaupt eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Gegend zu bekommen. Die Richtung ist vielleicht nicht die günstigste, aber wenn wir ihr folgen, erhalten wir eine Vorstellung von den Problemen, mit denen wir es zu tun bekommen werden. Genau diesen Ansatz möchte ich in diesem Kapitel verfolgen. Ich möchte einen bestimmten Denkansatz über die neuronale Grundlage des Interpretierens vorstellen. Mein Ziel ist es nicht, definitive Erklärungenaufzustellen – höchstwahrscheinlich werden sich viele der Details, die gleich folgen, irgendwann als falsch erweisen. Stattdessen möchte ich diesen Weg gehen, um einige der wesentlichen Prinzipien und Probleme herauszuarbeiten. Vielleicht wird dieses Kapitel streckenweise gerade kein Spaziergang – aber wichtig ist ja nicht so sehr die Reise im Einzelnen, sondern das, was wir unterwegs lernen.
    Als Hauptbeispiel soll mir die Interpretation visueller Bilder dienen; die so aufgezeigten Prinzipien sind aber genauso auf andere sinnliche Modalitäten wie Klang oder Haptik anwendbar. Wie immer ist es hilfreich, das Problem zunächst zu vereinfachen. Statt also komplexe Bilder wie Gesichter zu interpretieren, möchte ich mit einigen einfachen Fällen beginnen.
    Nehmen wir an, wir lebten in einer Welt, in der die Menschen eindimensional sind. Jedes Individuum in dieser Welt besteht aus einer hellgrauen Linie, auf der irgendwo ein dunklerer Streifen liegt. Abbildung 64 stellt zwei solche Menschen dar. Einer von ihnen ist Mary, erkenntlich daran, dass der dunkle Streifen in der Mitte liegt. Der andere ist John, dessen dunkler Streifen leicht außerhalb der Mitte liegt. Mit einem Blick auf Abbildung 64 sehen wir, dass John aussieht wie Mary, nur dass sein dunkler Streifen leicht nach rechts versetzt ist. Dass wir diesen Bezug herstellen können, liegt aber daran, dass wir es so gewohnt sind, Dinge in unserer Umwelt zu betrachten und zu interpretieren. Die Schwierigkeit besteht nun darin, ein neuronales System zu entwerfen, das zu demselben Ergebnis kommt – also John und Mary als gleichartig erkennt und zugleich feststellt, dass sie sich unterscheiden. Dafür führe ich ein Element ein, das ich als neuronale Augen bezeichne. Zwar mag der Begriff des neuronalen Auges anfangs etwas abstrakt wirken, aberzum Schluss werden wir sehen, inwiefern es den verschiedenen Verarbeitungsstufen im Gehirn entspricht.
    (64) John und Mary, eindimensional.
DAS NEURONALE AUGE
    Wenn wir unsere Augen bewegen, führt die Veränderung der Augenposition zur entsprechenden Veränderung des neuronalen Inputs an unser Gehirn. Dasselbe Ergebnis kann aber auch erreicht werden, ohne dass Augenbewegung daran beteiligt ist. Die nötigen Grundelemente dafür sind in Abbildung 65 dargestellt. Links in Abbildung 65 sehen wir ein Neuron (das Empfänger-Neuron), das stimulierende Inputs von einem Neuron auf seiner Linken (L) und von einem auf seiner Rechten (R) erhält. Dieselbe Anordnung wird rechts auf der Abbildung wiederholt, dazu kommt aber noch ein zusätzliches Neuron, das so genannte Selektionsneuron. Feuert das Selektionsneuron, blockiert das die Fähigkeit des Neurons L, sein Signal an das Empfänger-Neuron zu übermitteln, so als wäre der Verbindungsdraht gekappt worden. Bewirken kann das ein Phänomen namens präsynaptische Hemmung, bei dem das Feuern eines Neurons sich auf die Fähigkeit eines anderen Neurons auswirken kann, an seinen Enden Neurotransmitter freizusetzen. 101 Damit verfügt das Empfänger-Neuron nur noch über eine funktionierende Verbindung zum R-Neuron, die Verbindung zum L-Neuron dagegen ist tot (grau dargestellt). Das Selektionsneuron hat darauf eingewirkt, auf welches Signal der Empfänger hört. Diese Einwirkung ist reversibel: Feuert das Selektionsneuron nicht mehr, so wird die Verbindung zum L-Neuron wiederhergestellt, und der

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