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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Entscheidungen sind immer relativ, es wird also eine Gruppe von Handlungen gegen eine andere abgewogen. Bevor Bananen überhaupt ins Spiel kamen, wäre der Affe vielleicht damit zufrieden gewesen, immer Äpfel vorzufinden. Die Einführung einer weiteren Option verändert Erwartung und Verhalten. Die Grundprinzipien sind dieselben wie zuvor. Im Kern des Prozesses stehen Diskrepanzneurone, die gemäß unserer vertrauten doppelten Rückkopplungsschleife funktionieren. Die Schleifen werden von einem Gleichgewicht aus Variabilität (verschiedene Erfahrungen und Handlungen) und Persistenz (andauernde Veränderungen bei Stärke und Anzahl der Synapsen) angetrieben. Der Hauptunterschied ist der, dass wir weitere Interaktionsebenen zwischen Handlungen und ihren Wirkungen ins Spiel bringen, weitere Ebenen von Wettbewerb, Kooperation, kombinatorischem Reichtum und Rekurrenz. 94
    Ohne dieses fruchtbare Wechselspiel zwischen Handlung und Erfahrung sähe unsere neuronale Reise ganz anders aus. Nehmen wir an, wir könnten uns bei der Geburt noch nicht bewegen, aber alle unsere Sinne wären intakt. Wir könnten nicht die Arme bewegen, nicht die Augen drehen, keinen Ton herausbringen, aber doch sehen und hören, was um uns herum geschieht (wir nehmen an, dass überlebensnotwendige Körperfunktionen wie Atem und Herzschlag funktionieren). In einer solchen Situation ist es sehr zweifelhaft, ob wir das, was wir hören und sehen, überhaupt begreifen könnten. Zeigte uns jemand einen Apfel, so hätten wir keine Ahnung, was das sein soll. Wir könnten ihn nicht mit den Augen verfolgen, und wenn wir nie nach einem Apfel gegriffen oder gar hineingebissen hätten, hätten wir keine Vorstellung davon, wie er sich anfühlt oder schmeckt. Selbst der Begriff des Apfels als externer Gegenstand wäre uns fremd, denn es hätte nie eine Gelegenheit gegeben, das Verhältnis zwischen uns selbst und irgendwelchen Gegenständen um uns aktiv auszuloten. Könnten wir uns nicht bewegen, so wäre das eine sehr viel schlimmere Behinderung als der Verlust eines Sinnes. Ein Blinder oder Gehörloser kann immer noch einen kohärenten Begriff von der Welt entwickeln, weil er sich bewegen und sie mit eigenen Handlungen erkunden kann. Wie wichtig es ist, handeln zu können, um sich einen Begriff von der Welt zu machen, unterstrich der Physiologe Hermann von Helmholtz 1867:
    E rst indem wir unsere Sinnesorgane nach eigenem Willen in verschiedene Beziehungen zu den Objecten bringen, lernen wir sicher urtheilen über die Ursachen unserer Sinnesempfindungen, und solches Experimentiren geschieht von frühester Jugend an ohne Unterbrechung das ganze Leben hindurch. Wenn die Gegenstände nur an unseren Augen vorbeigeführt würden durch fremde Kraft, ohne dass wir selbst etwas dazu thun könnten, würden wir uns in einer solchen optischen Phantasmagorie vielleicht nie zurecht gefunden haben. 95
LERNEN VON ANDEREN
    Bisher haben wir untersucht, wie Individuen aus eigener Kraft lernen. Besonders für soziale Lebewesen wie den Menschen gibt es aber noch eine weitere Option: nämlich von anderen zu lernen. Wir können lernen, die Handlungen eines anderen nachzuahmen oder aus dem zu lernen, was er tut oder sagt. Zunächst wirkt diese Form des Lernens vielleicht ganz anders als das, was ich bisher beschrieben habe, weil die Informationen nun nur aus externen Quellen kommen. Doch selbst hier lässt sich das Lernen auf unseren eigenen Handlungen begründen.
    In den 1990er Jahren nahmen Vittorio Gallese, Giacomo Rizzolatti und Mitarbeiter an der Universität von Parma elektronische Messungen an den Neuronen von Makaken-Affen vor. 96 Sie identifizierten dabei bestimmte Gruppen von Neuronen, die aktiviert wurden, wenn der Affe bestimmte zielgerichtete Handlungen vornahm, wenn er etwa ein Stück Obst von einem Tisch nahm. Die entscheidende Beobachtung war, dass dieselben Neurone auch dann aktiviert wurden, wenn der Affe zusah, wie der Experimentator oder ein anderer Affe dieselbe Handlung durchführte. Wichtig ist hier die Zielgerichtetheit. Beobachtet der Affe jemanden, der zugreift, ohne dass Obst auf dem Tisch liegt, so feuern seine Neurone nicht. Wir nennen diese Neurone Spiegelneurone, weil sie auf externe Handlungen so reagieren, dass intern angetriebene Handlungen gespiegelt werden.
    Die Existenz der Spiegelneurone weist darauf hin, dass unsere Reaktion auf andere womöglich eng mit unseren eigenen Handlungen verknüpft ist. Wenn wir zielgerichtete Handlungen erlernen,

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