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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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einen abstrakteren Ansatz. Jeder Künstler lotet verschiedene Sichtweisen aus und erfasst damit unterschiedliche Aspekte, und nach eigenem Gutdünken hebt er bestimmte Bezüge besonders hervor.
    (62)  Porträt des Ambroise Vollard . Pablo Picasso, 1909.
    Nicht nur in der Kunst werden Bezüge aus neuen Perspektiven heraus entwickelt. Der Dichter Wordsworth erkannte sein einsames Wandern
     im Dahinziehen einer Wolke wieder. Newton bezog das Herunterfallen eines Apfels auf das Kreisen der Planeten um die Sonne. Beethoven erkundete neuartige
     tonale Bezüge, als er seine Symphonien komponierte. Auf etwas bescheidenerer Ebene vollziehen auch wir täglich solche kreativen Akte, etwa wenn wir Blumen
     in eine Vase ordnen oder beim Sprechen einen neuen Satz konstruieren. 98 In all diesen Fällen werden Bezüge originell neu erkundet; und das können Bezüge zwischen Gegenständen, Bewegungen, Klängen oder Wörtern sein.
    In den beiden vorigen Kapiteln haben wir untersucht, wie wir lernen, Vorhersagen zu treffen und zu handeln. Jetzt will ich darstellen, wie wir lernen, die Dinge unserer Umwelt zu interpretieren oder auf besondere Weise zu betrachten. Wir werden sehen, dass diese drei Prozesse – Vorhersage, Handlung und Interpretation – eng miteinander verknüpft sind. Über ihr Wechselspiel werden wir dermenschlichen Kreativität auf den Grund gehen. Wie Sie vielleicht bereits vermuten, liegen an diesen Wurzeln keine grundsätzlich neuen Prinzipien – sondern wir werden wieder auf unsere vertraute Formel stoßen. Doch dazu müssen wir noch auf die weiteren Wechselwirkungen und den Wettbewerb zwischen unseren Neuronen eingehen.
    Beginnen wir mit der Doppeldeutigkeit. Betrachten wir einmal das mittlere Bild in Abbildung 63. Sie sehen dort entweder eine hagere alte Frau im Profil oder eine junge Frau, die sich von Ihnen abwendet. Diese beiden Interpretationen werden in den Zeichnungen rechts und links herausgearbeitet; mit ein paar Änderungen habe ich dort die alte (links) und die junge Frau (rechts) deutlicher hervorgehoben. Betrachten wir die mittlere Zeichnung, so sehen wir eines von zwei Motiven, dabei ist der sensorische Input in beiden Fällen exakt derselbe. Eine ähnliche Situation hatten wir schon bei den Gemälden von Arcimboldo, die man entweder als Haufen von Büchern und Gemüse betrachten kann oder als Gesichter. Solche Beispiele zeigen, dass Wahrnehmung nicht nur das ist, was unsere Sinne erfassen; Wahrnehmung hängt auch davon ab, welche Interpretationen wir dazu vornehmen. Jede Wahrnehmung enthält auch einen starken Anteil, der von uns selbst stammt.
    (63) Mittlere Zeichnung: Meine Frau und Schwiegermutter , Edwin Boring, 1930. Links und rechts wurden die Zeichnungen so verändert, dass die alte beziehungsweise die junge Frau stärker heraussticht.
    Unsere Wahrnehmungen werden auch in bestimmter Weise eingeschränkt. Betrachten wir doppeldeutige Bilder wie das in der Mitte von Abbildung 63, so sehen wir gleichzeitig immer nur eine Interpretation – entweder eine alte Frau im Profil oder eine junge Frau, diesich abwendet, aber nie beide zugleich. Unser Gehirn scheint darauf festgelegt zu sein, das Bild auf die eine oder die andere Weise zu interpretieren. Was wir sehen, wird vielleicht auch von dem beeinflusst, was wir bereits im Kopf haben. Betrachten wir zuerst das Bild links und springen dann auf das mittlere Bild, so sehen wir mit höherer Wahrscheinlichkeit die alte Frau. Gelangen wir aber von rechts auf das mittlere Bild, so ist es wahrscheinlicher, dass wir die junge Frau sehen. Was wir sehen, hängt also zum Teil von dem ab, was wir zuvor gesehen oder was wir erwartet haben. Diese Erwartungen wurzeln in noch früheren Erfahrungen. Hätten wir niemals alte oder junge Frauen gesehen, so erschiene uns das mittlere Bild nochmals in ganz anderem Licht. Vielleicht würden wir es dann als abstraktes schwarz-weißes Muster interpretieren – übrigens eine weitere zulässige Interpretation. Unsere Interpretationen sind nicht vorgegeben; sie werden von der Geschichte unserer Erfahrungen gelenkt.
    Wo liegt nun die neuronale Basis für die Interpretationen, und warum sind sie so gelenkt? Wir wissen, dass bestimmte Hirnregionen an der Reaktion auf einzelne Gegenstände beteiligt sind. Zum Beispiel gibt es eine Region, die so genannte »Fusiform Face Area«, die am Erkennen von komplexen Objekten wie Gesichtern beteiligt ist. 99 Patienten mit Läsionen an dieser Region tun sich schwer mit der

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