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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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stärken wir demnach neuronale Verbindungen zwischen bestimmten Handlungen und ihren Auswirkungen. Der Affe registriert seine eigenen Armbewegungen, wenn er sich nach einem Stück Obst streckt, und verknüpft sie mit dem Erhalt einer Belohnung. Wenn der Affe aber sieht, wie dieselbe Handlung von einem anderen Individuum ausgeführt wird, so werden offenbar einige derselben Neuronen aktiviert. Daraus folgt, dass die Handlungen eines anderen Individuums mit den eigenen Handlungen des Affen verknüpft werden. Dank dieser Verknüpfung kann der Affe in der Folge interpretieren, was das andere Individuum vorhat, und kann so von ihm lernen. Wer lernt, andere zu verstehen oder zu imitieren, bewegt sich nicht auf einer Einbahnstraße. Grundlage dafür bleibt, was wir aus unseren eigenen Handlungen lernen, und dieses Wissen nutzen wir dann, um Verbindungen zu anderen aufzubauen. So wie jemand, der bewegungsunfähig ist, nicht verstehen könnte, wenn ein Apfel vor ihn gelegt wird, hätten wir sonst keine Vorstellung, was es bedeutet, wenn jemand anderes nach dem Apfel greift; denn wenn wir selbst noch nie solche Bewegungen durchgeführt hätten, wäre die Handlung uns ein vollkommenes Rätsel.
    Dieses Wechselspiel zwischen unseren Bewegungen und denen der anderen eröffnet noch eine weitere Kooperationsebene. Im Gespräch mit einem Gegenüber führen wir alle möglichen Handlungen aus. Zeitweise sprechen wir, aber daneben bewegen wir noch unsere Augen, verändern unseren Gesichtsausdruck und passen unsere Körperhaltung an. Diese Handlungen nimmt unser Gesprächspartner wahr, und sie rufen bei ihm bestimmte Reaktionen hervor. Vielleicht folgt sein Blick unserem, und sein Gesichtsausdruck verändert sich je nachdem, was wir sagen oder tun. Wir dagegen nehmen wiederum diese Reaktionen wahr. Unsere Handlungen werden über unseren Gesprächspartner an uns zurückgegeben. Natürlich geht es dem Gegenüber genauso: Er bekommt seine Handlungen über uns reflektiert. Am Ende haben wir zwei ineinander verwobene Rückkopplungsschleifen, bei denen sich unsere Bewegungen und die des Gesprächspartners ineinander verschränken. Diese gegenseitige Kooperation erlaubt wirksame Kommunikation zwischen unserem und seinem Gehirn. Am deutlichsten wird uns das, wenn eine der Rückkopplungsschleifen unterbrochen wird. Gleiten die Augen unseres Gesprächspartners ab oder reagieren sie so, dass klar wird, dass er uns nicht zugehört hat, so spüren wir, dass die Kommunikation abgeschnitten ist. Unsere Handlungen erhalten dann nicht mehr die erwartete Rückmeldung vom Gesprächspartner, und die gegenseitige Intimität ist verloren. Der Neurowissenschaftler Chris Frith drückt das so aus: »Aber wenn sich zwei Menschen gegenüberstehen, ist ihr Gedankenaustausch über Begriffsinhalte ein Gemeinschaftsunternehmen.« 97
    Unsere neuronale Reise, auf die wir uns mit unserem Eintritt in die Welt machen, ist also nicht unabhängig von denen der anderen. Unsere beeinflusst kontinuierlich die Reisen in unserem Umfeld und reagiert zugleich auf sie. Die Grundprinzipien, nach denen das abläuft, weichen nicht von dem ab, was uns schon wiederholt begegnet ist. Im Kern des Prozesses steht das Aufdecken von Diskrepanzen und das Lernen daraus, unsere vertraute doppelte Rückkopplungsschleife. Nur gibt es jetzt verschiedene Ebenen von Kooperation, kombinatorischem Reichtum und Rekurrenz sowie zudem ein Wechselspiel zwischen unseren Handlungen und Erfahrungen und denen der anderen.
    Damit wissen wir nun, wie die Formel des Lebens einen konzeptionellen Rahmen für das Verständnis unserer Fähigkeit liefert, aus unseren eigenen Handlungen und denen der anderen zu lernen. Immer noch ist aber das Ergreifen eines Stücks Obst oder eine Unterhaltung weit entfernt vom Aufbringen einer neuen Idee oder der Schöpfung eines schönen Gemäldes. Was verbirgt sich hinter solcher Intelligenz und Kreativität, und wie verhält sich das zu den Prozessen, die wir bisher besprochen haben? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir untersuchen, wie wir lernen, die Dinge als etwas Bestimmtes zu interpretieren.

K APITEL 9
INTERPRETIEREN
    Zehn Jahre nach Cézannes Porträt des Kunsthändlers Ambroise Vollard erschuf Pablo Picasso seine Version desselben Modells (Abb. 62). Sein kubistisches Gemälde unterscheidet sich sehr stark von Cézannes Porträt. Während Cézanne sein Motiv aus kompakten Farbblöcken als solide Form darstellt, verwendet Picasso kantige Einzelelemente und verfolgt

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