Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
weiter fortbewegen, weil neue Kontexte neue Herausforderungen darstellen. 16
Die Evolution wird also von der Vergangenheit ständig vorwärts getrieben, verändert andauernd ihren eigenen Kontext und schafft die Bedingungen für weitere Schritte. Diese Abhängigkeit von der Vergangenheit verleiht dem Prozess eine starke historische Prägung. Das Protein RuBisCO etwa bildete sich ursprünglich vor Milliarden von Jahren heraus, als die Atmosphäre nur wenig Sauerstoff enthielt, so dass die Unterscheidung von Sauerstoff- und Kohlendioxidmolekülen für Pflanzen damals wohl nicht besonders wichtig war. Erst später, als wegen der pflanzlichen Photosynthese der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre anstieg, wurde die versehentliche Sauerstofffixierung überhaupt zum Problem. Dann aber war es wohl schon schwierig, die bereits existierende Struktur des RuBisCO zu modifizieren, weil sie bereits bestimmte restriktive Merkmale aufwies.Genauso musste die Evolution der Flugfähigkeit bei Vögeln und Fledermäusen von einer ganz bestimmten Anordnung der Knochen in den vorderen Gliedmaßen ihrer Vorfahren ausgehen. Bei Vögeln entsprechen die Flügel dem ganzen Arm, während bei Fledermäusen nur die auseinander gespreizten Finger ihrer Hände als Flügel dienen. In beiden Fällen aber blieb die Anordnung der Knochen in den Gliedmaßen grundsätzlich erhalten und spiegelt noch die ihrer fernen Vorfahren. Die Möglichkeit, auf dem Früheren aufbauen zu können, muss man mit den Zwängen früherer Systeme bezahlen. Das bedeutet nicht unbedingt Stillstand, weil, wie wir gesehen haben, der kombinatorische Reichtum viele evolutionäre Möglichkeiten eröffnet. Doch die Zwänge der historischen Entwicklung können die Evolution dazu zwingen, äußerst gewundene und eigenwillige Wege zu beschreiten.
Für unsere künstlerische Analogie gilt übrigens dasselbe. Monets Innovation ist eine Reaktion auf eine ganze Reihe vorausgehender Leistungen der Malerei, darunter auch die Neuerungen von Michelangelo und anderen Renaissancekünstlern. Wäre Monet 400 Jahre früher geboren, so hätte er keine impressionistischen Gemälde erschaffen können. Genauso bauten die Entdeckungen der Renaissance auf der künstlerischen Entwicklung der byzantinischen Epoche und der klassischen Antike auf. Doch obwohl Kunst auf vorausgehenden Leistungen beruht, ist die Kunstgeschichte kein geradliniger Weg. In gewissem Sinn mag der Impressionismus simpler erscheinen als der Realismus der Renaissance, und byzantinische Gemälde mit ihren langgezogenen, flachen Gestalten können primitiver wirken als Gemälde der klassischen Antike, die ihnen vorausgingen. Wie die biologische Evolution beschreitet die Kunst verschlungene, individuelle Pfade, weil sie ständig auf das aufbaut oder reagiert, was vorausging, und ihren Kontext stets verschiebt.
DER URSPRUNG DER ARTEN
Bisher haben wir untersucht, wie sich die Rekurrenz innerhalb einer einzelnen Population auswirkt. Durch ständigen Rückgriff auf das Vorausgegangene und dadurch, dass ein Kontext immer den Rahmen für den nächsten Kontext aufstellt, bewegt sich unsere Populationswolke schrittweise durch den genetischen Raum und lotet verschiedene Regionen aus. Aber die Evolution greift nicht nur an einzelnen Populationen. Es gibt viele Arten, und jede davon kann als Population potenzieller Geschlechtspartner angesehen werden. Es wandern also zahlreiche Populationswolken oder Arten in den verschiedensten Richtungen umher. Diese Arten können zudem möglicherweise miteinander wechselwirken, wie wir es bei Äpfeln und Bären schon festgestellt haben. Diese Wechselwirkungen liefern einen noch weiteren Kontext für die Evolution, nämlich ganze Ökosysteme. Wie aber kommt es zu diesem weiteren Kontext?
Um das zu erklären, müssen wir zunächst verstehen, was eine Population eint: Woran liegt es, dass eine Populationswolke nicht im weiten genetischen Raum verpufft? Bei dieser Frage kommt die Geschlechtlichkeit ins Spiel. Unterscheidet sich ein Individuum vom Rest seiner Population sehr stark, so ist es möglicherweise unfähig, sich mit einem Partner wirksam zu paaren. Und selbst im Fall einer Begattung wären die Nachkommen irgendwann vielleicht ein derartiger Mischmasch von verschiedenen Merkmalen, dass sie nicht mehr wirklich überlebensfähig wären. Die ständige Paarung zwischen Individuen bewirkt also im Zusammenspiel mit der natürlichen Selektion, dass die Variabilität einer Population bestimmte Grenzen nicht
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