Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
des nötigen Kohlenstoffs ausreicht – RuBisCO gilt als das häufigste Protein der Welt. Zweitens kann, wie eben beschrieben, die lokale Konzentration erhöht werden, indem Kohlendioxid in Spezialzellen innerhalb des Blatts gepumpt werden. Statt sich also von den Einschränkungen von RuBisCO blockieren zu lassen, wurden andere Wege oder Mechanismen entwickelt, um das Problem zu umgehen.
Man kann die Strategie, einfach mehr Protein zu produzieren beziehungsweise Kohlendioxid im Blatt umzuverteilen, für unschöne Ausweichlösungen halten, an denen man die Unfähigkeit der natürlichen Selektion ablesen kann, ein besseres Protein ausfindig zu machen; man kann die Lösung aber auch als eine schöne Anpassung sehen, die die Zwänge des Systems ausgezeichnet integriert. Wichtig ist jedenfalls die Feststellung, dass sich Probleme im genetischen Raum auf verschiedene Weise umgehen lassen, weil der so überaus groß ist und in derart vielen Richtungen ausgelotet werden kann.
Diese Flexibilität hat zur Folge, dass ein und dasselbe Problem im Lauf der Evolution häufig unterschiedlich gelöst wird. Betrachten wir etwa die Evolution des Fliegens. Die Ausstattung mit Federn war ein Schlüsselmerkmal, das die Evolution der Flugfähigkeit bei Vögeln ermöglichte. Demnach könnte man meinen, keine Federn zu besitzen, hätte bei anderen Gruppen, etwa bei Säugetieren, die Evolution der Flugfähigkeit definitiv verhindert. Stattdessen haben Flugsäugetiere, zum Beispiel Fledermäuse, bei ihrer Evolution das Problemanders gelöst. Statt Federn verfügen sie an ihren Flügeln über großflächige Hautlappen zwischen den langen, dünnen Fingern. Oder vergleichen wir verschiedene Tierlaute: Vögel lassen in ihren Atemwegen Membranen vibrieren, während Grillen ihre Flügel aneinander reiben – das Zwitschern und Zirpen klingt aber sehr ähnlich. Die Vielfalt der genetischen Optionen erlaubt eine Vielfalt der Lösungen.
Daraus, dass der genetische Raum der Möglichkeiten so riesig ist, ergeben sich zwei Folgen. Erstens kann nur ein winziger Teil dieses Raumes von unseren wandernden Populationswolken je ausgelotet werden. Und zweitens ergibt sich aus der Vieldimensionalität des Raums, dass die Wolken sich in viele Richtungen bewegen können, dass also eine extrem hohe Flexibilität besteht. Die natürliche Selektion wird nie alle Möglichkeiten erschöpfen können, aber dafür kann sie umso mehr Richtungen einschlagen.
Ähnlich verhält es sich mit der menschlichen Kreativität. Eine der Einschränkungen der Malerei ist, dass sie Bewegung nicht direkt darstellen kann. Und doch haben Künstler immer wieder verschiedene Techniken eingesetzt, um innerhalb dieser Schranken doch Bewegung darzustellen. Ein gutes Beispiel dafür ist Michelangelos Gemälde von der Erschaffung Adams an der Decke der Sixtinischen Kapelle (Abb. 8). Gottes Bewegung nach links wird von seinen sich bauschenden Kleidern und den vom Wind nach hinten geblasenen Haaren ausgedrückt, dazu kommt noch der vorgestreckte Arm und die suggestive Lücke zwischen den Fingerspitzen, die danach strebt, geschlossen zu werden.
(8) Die Erschaffung Adams . Michelangelo Buonarroti, 1510.
Ganz anders ging über 350 Jahre später der Impressionist Claude Monet vor, um Bewegung darzustellen. In seinem Gemälde Die Rue Montorgueil zeigt Monet ein Wirrwarr von zahlreichen Fahnen, die nur ungenau gezeichnet sind (Abb. 9). Über diese Unbestimmtheit schafft er ebenfalls ein deutliches Gefühl von Bewegung und Lebendigkeit. Es ist, als könnten unsere Augen an nichts innehalten, und das wirkt, als würden die Fahnen vor uns flattern. Nach Michelangelo hätte man denken können, nur durch das Vorwärtsstreben des Körpers oder durch stärkeres Aufbauschen der Kleidung hätte man einem Gemälde stärkere Bewegung verleihen können. Und tatsächlich versuchten auch viele Nachahmer von Michelangelo, Bewegung genau so einzufangen – es gab sogar noch sehr viel ausgefeiltere Verdrehungen des Körpers. Monet aber transportiert Bewegung mit einem anderen Ansatz auf einem ganz neuartigen Weg.
(9) Die Rue Montorgueil in Paris während der Feier am 30. Juni 1878 . Claude Monet, 1878.
Malerei besteht im Aufbringen von Farbflecken auf eine fixierte Fläche. Die Zahl möglicher Farbkombinationen, das Spektrum aller möglichen Gemälde, ist unvorstellbar groß. Künstler können nur einen winzigen Bruchteil dieses Raumes der Möglichkeiten erkunden, und doch können sie innerhalb dieser
Weitere Kostenlose Bücher