Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Individuums fände sich an einer bestimmten Position in diesem riesigen genetischen Raum der Möglichkeiten. Meine Gensequenz zum Beispiel läge an einer bestimmten Stelle. Aufgrund von Mutationen und dem beständigen Durchmischen und Rekombinieren von Chromosomen besitzen wir alle eine leicht unterschiedliche Gensequenz. Die gesamte menschliche Bevölkerung als Ganzes würde einem Cluster von Punkten oder einer Wolke in diesem Raum entsprechen. Diese Populationswolke ist im Vergleich zum Gesamtraum sehr klein, weil von einer einzelnen Art jeweils nur ein winziger Bruchteil der potenziellen genetischen Varianten besetzt wird. Da es aber auf der Erde viele Arten gibt, gibt es auch viele solche Wolken, von denen jede einen winzigen Teil des genetischen Raums belegt.
Die Evolution können wir nun als Standortverschiebungen von Populationswolken begreifen, die den Veränderungen in der genetischen Konstitution der Spezies entsprechen. Im Lauf der Evolution lotet jede Populationswolke bestimme Regionen des genetischen Raums aus und bewegt sich in wechselnden Richtungen fort. Da esviele Arten gibt, bewegen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt stets viele solche Wolken gleichzeitig durch diesen Raum. Weil er so weitläufig ist, wurde bisher trotzdem nur ein winziger Bruchteil des genetischen Raums je vom Leben auf der Erde ausgelotet.
Um von der Bedeutsamkeit all dieser Umstände eine konkretere Vorstellung zu erhalten, betrachten wir nun, wie die Evolution eines einzelnen Proteins vor sich gehen kann. Die Fähigkeit von Pflanzen, Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufzunehmen, beruht auf einem Protein namens Ribulose-1,5-bisphosphat-carboxylase/-oxygenase, oder kurz RuBisCO. Dieses Protein koppelt sich an Kohlendioxid-Moleküle aus der Atmosphäre an und veranlasst sie, sich an andere Kohlenstoffmoleküle zu binden. Auf den ersten Blick wirkt RuBisCO bei dieser Kohlenstoffbindung sehr effizient – es kann pro Sekunde etwa drei Kohlenstoffmoleküle binden, und das erscheint recht schnell. Eigentlich ist das aber für ein Protein ziemlich langsam – andere Proteine können pro Sekunde Hunderte oder Tausende Reaktionen ausführen. RuBisCO ist also eher träge. Und die Langsamkeit ist nicht sein einziger Nachteil; es arbeitet zudem auch ziemlich fehlerhaft. Manchmal bindet es statt Kohlendioxid Sauerstoff. Sauerstoff zu binden ist für die Pflanze kontraproduktiv, weil es letzten Endes zur Freisetzung von Kohlendioxid führt, dem genauen Gegenteil der Kohlenstoff-Fixierung. Ein Drittel des Kohlenstoffs, der in Pflanzen gebunden ist, geht aufgrund dieses molekularen Fehlers wieder verloren. Ursache dafür ist, dass die Form von RuBisCO einfach nicht spezifisch genug ist, um zwischen Kohlendioxid- und Sauerstoffmolekülen immer richtig zu unterscheiden.
Besonders gravierend ist dieses Problem für Pflanzen, die unter warmen, trockenen Bedingungen leben, wo also die Porenöffnungen in den Blättern möglichst klein sein müssen, um Wasserverlust zu vermeiden. Geschlossene Poren senken nun aber den Kohlendioxid-Gehalt im Blatt, weil sich der Kohlenstoff schneller bindet, als er aus der Atmosphäre nachgeliefert wird. Die Fehlerfrequenz bei RuBisCO ist damit hoch, weil im Verhältnis zu Sauerstoffmolekülen weniger Kohlendioxid-Moleküle vorhanden sind, so dass häufig Sauerstoff statt Kohlendioxid gebunden wird. Mehrere Pflanzenarten haben durch Evolution eine Lösung für dieses Problem herausgebildet. So wird RuBisCO bei diesen Pflanzen nur in speziellen Blattzellen gebildet. Die übrigen Blattzellen pumpen das Kohlendioxid wirksamzu diesen Spezialzellen und lassen dort den Kohlendioxid-Gehalt lokal ansteigen. Obwohl die Gesamtkonzentration von Kohlendioxid im Blatt also weiterhin niedrig ist, haben die Spezialzellen mit dem Protein RuBisCO einen hohen Kohlendioxid-Gehalt; das Fehlerrisiko wird somit gesenkt.
Offenbar ist RuBisCO alles andere als optimiert. Natürlich leistet es bei der Bindung von Kohlenstoff einige Arbeit, aber vielleicht existiert irgendwo im Raum der möglichen Proteine eine Variante, die denselben Job schneller und effizienter erledigen könnte. Der Prozess der Evolution hat aber nie zu dieser Proteinvariante geführt, weil nur ein winziger Bruchteil aller Möglichkeiten ausgelotet wurde. Doch selbst mit dem suboptimalen RuBisCO konnte die natürliche Selektion dessen Einschränkungen mehrfach kompensieren. Einerseits dadurch, dass Pflanzen so viel von diesem Protein herstellen, dass es für die Bindung
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