Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Bergketten oder Meere getrennt, so können Sprachen allmählich voneinander abweichen, weil zwischen den beiden Gruppenkein Kommunikationsbedarf mehr besteht. Dabei werden die Veränderungen nicht etwa durch Unterschiede in der physischen Umwelt befördert – wer Italienisch spricht, kommt nicht wesentlich besser mit dem Klima in Italien zurecht als jemand, der Englisch spricht. Vielmehr driften Sprachen eher durch eine Anhäufung von kleinen Veränderungen auseinander, die für sich genommen keinen großen Unterschied ausmachen. Da jede Generation zu kommunizieren lernt, werden zufällige Varianten in Wörtern und ihrer Aussprache eingeführt und regional verbreitet. Bestimmte Wörter werden durch andere ganz ersetzt, weil es Grenzen dafür gibt, wie viele Wörter eine Sprache enthalten kann. Gibt es zum Beispiel zwei Möglichkeiten auszudrücken, was ein Apfel ist, so können wir erwarten, dass sich mit der Zeit eine davon durchsetzt. Dabei ist nicht eine Möglichkeit, »Apfel« zu sagen, an sich besser als die andere; aber wir können einfach nur eine begrenzte Anzahl von Wörtern behalten, und deshalb wird irgendwann eines das andere überlagern. Jede Veränderung für sich genommen wird das Verständnis nicht unmöglich machen, aber durch die Anhäufung vieler solcher Veränderungen gelangen wir schrittweise an einen Punkt, an dem die Sprachen sich sehr stark voneinander unterscheiden; so stark, dass die Sprecher der einen die der anderen nicht mehr verstehen können. In unserem imaginären Sprachenraum bildet jede Sprache eine dichte Wolke, die klein bleibt, weil bei Menschen, die regelmäßig miteinander sprechen, nur kleinere linguistische Varianten auftreten. Aber wenn zwischen Menschen Kommunikationsbarrieren entstehen, in der Regel weil sie geografisch getrennt sind, können sich linguistische Wolken mit der Zeit aufspalten und sich weit voneinander wegbewegen. Natürlich ist diese Darstellung der Sprachdifferenzierung höchst vereinfacht, aber sie illustriert, wie Wolken auseinander driften können, obwohl nichts sie aktiv zur Divergenz treibt.
Solche Divergenzen sind auch bei der biologischen Evolution möglich. Physische Barrieren sind auf der Erde häufig, denn die Materie häuft sich in sehr unterschiedlichen Größenordnungen an; das Ergebnis ist eine unebene Welt voller Grenzen. Flüsse, Meere oder Berge können eine Region von einer anderen trennen. Im kleineren Maßstab können Teiche durch eine Landzunge voneinander getrennt sein. Dadurch werden Populationen von Organismen tendenziell durch irgendetwas in ihren Bewegungen eingeschränkt. Hinund wieder überwinden vielleicht ein paar Individuen aus einer Population eine Barriere und erobern einen neuen Lebensraum, indem sie etwa zu einer Insel schwimmen oder von einem Teich in einen anderen gelangen und dort eine neue Population gründen. Das ergibt dann zwei räumlich voneinander getrennte Populationen. Und da geschlechtlicher Austausch von räumlichem Kontakt abhängig ist – dem Zusammentreffen der Keimzellen beider Eltern –, gibt es zwischen diesen beiden Populationen wenig oder gar keinen Austausch.
Ohne physischen Kontakt beginnen nun unsere beiden Populationswolken möglicherweise, in verschiedene Richtungen des genetischen Raums weiterzuwandern. Zum Teil kann diese Divergenz von unterschiedlichen Umweltbedingungen in den beiden Lebensräumen gefördert werden, die über die natürliche Selektion zu verschiedenen Anpassungen führen. Doch selbst ohne größere Unterschiede in der Umwelt können wir erwarten, dass die Wolken auseinanderdriften. Häufig geht es dabei um eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung: Bessere Leistung auf einem Gebiet geht oft zu Lasten eines anderen Gebiets. Mit Hufen kann man vielleicht besser über den Boden laufen, aber schlechter Bäume hinaufklettern. Ein Vorteil geht zu Lasten eines anderen. Das heißt, dass bei einigen evolutionären Veränderungen Verbesserungen in einem Bereich mit Verlusten in einem anderen mehr oder weniger kompensiert werden. Den Vorteil, schneller laufen zu können, kann man vielleicht dem Nachteil, nicht auf Bäume klettern zu können, gleichsetzen. In solchen Fällen führt evolutionärer Wandel also vielleicht nicht zu großen Unterschieden in der globalen Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit eines Organismus, obwohl dieser jetzt womöglich ganz anders funktioniert. In evolutionärem Nutzen gerechnet wäre der Wandel praktisch neutral, so wie in unserem linguistischen Beispiel eine
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