Die Fotografin
will, ist Klarheit. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ich habe mich von meinem Liebhaber getrennt, Millionen von Frauen machen das jeden Tag. Das ist nichts Ungewöhnliches.“
Ungewöhnlich ist allerdings, dass ich meinen Liebhaber in einer Blutlache am Boden liegen sah und daneben ein blutiges Messer, das ich kurz davor noch in der Hand gehalten habe. Dass ich nackt und blutig durch die Wohnung getaumelt bin, das ist ungewöhnlich. Dass ich 24 Stunden später zuhause in meinem Bett aufgewacht bin, als wäre nichts passiert, ist auch ziemlich ungewöhnlich. Dass ich mir an der Heckklappe unseres Wagens den Kopf angeschlagen habe und mich nicht daran erinnern kann. Das ist ebenfalls ungewöhnlich.
Aber diese Gedanken verschweige ich Marion gegenüber.
„Mein Liebhaber kann sich nicht einfach in Luft auflösen. Spare dir bitte jetzt deine Kommentare!“, sage ich und hebe meine Hand, als Marion etwas erwidern will. „Talvin hat genauso existiert wie du. Das musst du mir glauben. Ich bitte dich nur darum, mir zu helfen, ihn wiederzufinden.“
Flüsternd beuge ich mich vor, lege meine Hand auf Marions Arm, um das Böse in ihr zu bannen.
„Vielleicht ist Talvin das Opfer eines Verbrechens geworden.“
„Wie kommst du denn darauf?“, fragt Marion und ist nicht wirklich überrascht.
„Na, wenn er vom Erdboden verschwunden ist, muss doch etwas passiert sein! Man verschwindet doch nicht einfach so, ohne Spuren zu hinterlassen. Das gibt es einfach nicht!“ Noch immer drücke ich ihren Arm fest auf das Marmortischchen, damit ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe. „Ich bilde mir das alles nicht ein, verstehst du? Ich kann klar zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. Mein Psychiater sagt, dass ich in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht habe. Ich erledige meine Jobs ohne größere Probleme. Ich bin okay, bin nur völlig außer Atem!“
Keuchend umfasse ich jetzt mit beiden Händen die Arme von Marion, beuge mich noch weiter vor, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Marions Haut ist weiß wie Schnee und noch immer beinahe faltenfrei. Sie wäre das perfekte Gegenstück zu Talvins Schokoladenteint. Marion und Talvin, sie wären das perfekte Paar. Dieser Gedanke taucht blitzartig auf und verglüht im nächsten Moment wie ein Irrlicht.
„Du hilfst mir doch? Auch wenn du mir nicht glaubst, oder? Schon um der alten Zeiten willen!“
Marion Winter, meine beste Freundin, glaubt mir meine Geschichte nicht wirklich. Aber sie ist loyal und hilft mir dabei, meinen Liebhaber Talvin an der Universität aufzutreiben. Das hat sie mir versprochen, bevor sie wieder in die Werbeagentur zurückgekehrt ist. Sie hat eine verflossene Liebschaft in der IT-Abteilung der Universität sitzen, der für sie Nachforschungen anstellen wird. Sie denkt da unglaublich positiv, im Gegensatz zu mir. Da ich aber weiß, dass Talvin Singh Philosophie studiert, ist es sicher nicht schwierig, ihn am philosophischen Institut ausfindig zu machen. Dann kann ich mich ein letztes Mal mit ihm treffen, um über unsere Trennung zu sprechen.
Ist das einmal erledigt, kehre ich wieder in meine kleine Welt zurück und unterstütze meinen Mann Gregor bei seinem Wahlkampf. Ich halte ihm, wie man so schön sagt, den Rücken frei. Gebe mich also auf, lasse mich fallen und werde nie wieder von fremden Düften, salziger Schokoladenhaut und dem südindischen Chennai träumen. Versprochen!
4. Mittwoch – nachts
Obwohl es bereits nach Mitternacht ist, kann ich nicht einschlafen. Ich habe alle Lichter gelöscht und liege mit offenen Augen im Bett. In meinen Ohren rauscht der Golf von Bengalen und wenn ich die Luft einsauge, so ist sie erfüllt von exotischen Gerüchen. Was mir fehlt, ist der Spiegel über dem Bett und Talvin, der seinen schokoladenbraunen Arm auf meinen Bauch legt, meinen Solarplexus massiert und gleichzeitig von seinem Großvater erzählt, der die Bibliothek der Theosophischen Gesellschaft von Madras geleitet hat. Diese Kombination aus Berührung und Stimme macht mich völlig verrückt. Ich seufze laut auf und taste mich zurück zum ersten Tag – dem Tag, als sich Talvins Finger um die meinen schlossen und ich, die Jägerin, in die Falle ging.
Unten geht die Tür auf und das Licht an. Gregor ist zurückgekehrt und mein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Eine Vorahnung, hätte meine Großmutter gesagt, aber ich habe nie mit ihr über Vorahnungen gesprochen. Gregor flucht laut und rücksichtslos, ohne sich um seine
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