Die Fotografin
und diesmal ist meine Stimme schon eine Nuance höher und klingt in der Dunkelheit unangenehm schrill und dafür hasse ich mich.
„Marion hat MICH angerufen“, antwortet Gregor ruhig und betont penetrant das Wort „mich“. „Sie macht sich große Sorgen um deinen Zustand. Du fotografierst manisch alle Leute, fühlst dich verfolgt und du hast wieder diese Wahnvorstellungen wie damals.“
Gregors schattenhaftes Profil wirkt in der Dunkelheit auf mich wie das eines Inquisitors. Natürlich merkt er, dass ich in der Defensive bin, dass es für mich ein Schock ist, ausgerechnet von ihm zu erfahren, dass Marion, meine beste Freundin, die Seiten gewechselt hat, dass ich meine letzte Verbündete verloren habe. Aber ich hatte ja bereits zu Mittag so eine Ahnung, als ich mich mit Marion traf. Meine Intuition hat mich also nicht getäuscht. Marion wollte mich bloß aushorchen, sie will mir gar nicht helfen, sie ist nur der verlängerte Arm von Gregor.
„Du steigerst dich schon wieder in eine Geschichte hinein, die nur in deinem Kopf existiert, Adriana!“ Er atmet schwer, schüttelt bedauernd den Kopf, so als gäbe es für mich keine Rettung. „Wir müssen mit Hans, ich meine mit Dr. Mertens ein ernstes Gespräch führen, denn dein Zustand hat sich verschlechtert.“
„Ach ja?“, schreie ich und schüttle meinen Kopf, sodass meine Haare wie Peitschenschnüre über mein Gesicht und meine Schultern schnalzen. In Gedanken habe ich die richtigen Worte, höre sie durch meinen Kopf kreisen: ‚Was verstehst du schon von meinem Zustand. Weißt du was, ich werde dich verlassen und mit Talvin nach Chennai übersiedeln. Wir werden in einem weißen Haus am Marina Beach wohnen und den ganzen Tag nur Sex haben und die warmen Wellen an der Koromandelküste werden den nach Sex duftenden Schweiß von unseren Körpern spülen. Meine Haut wird so braun wie die von Talvin und wenn wir unter den sanft raschelnden Palmblättern in unserer Hängematte liegen, dann gibt es keinen Unterschied mehr, dann sind wir eine Einheit!‘
Das sind schöne Sätze, die meine Sehnsüchte genau auf den Punkt bringen, doch in dem dunklen Schlafzimmer mit der bedrohlichen Silhouette meines Mannes bleiben sie ungesagt und ohne Wirkung.
„Adriana“, stoppt mein Mann diesen Gedankenfluss und der indische Ozean zieht sich zurück in die nur noch schwer zugänglichen Bereiche meines Denkens. „Du musst wieder normal werden und darüber hinwegkommen!“ Wieder schnauft er heftig und knetet mit seinen großen Händen meine Bettdecke.
„Diese aufreibende Parteiarbeit mache ich doch bloß für unsere Familie!“
„Unsere Familie existiert doch schon lange nicht mehr. Und die Arbeit machst du alleine für dich!“, antworte ich und lege meine ganze Verachtung in diesen einen Satz. Doch Gregor reagiert nicht darauf, sondern walkt noch immer wie besessen meine Bettdecke. Die schwere Taucheruhr klirrt an seinem Handgelenk. Diese Uhr mit dem Drehring hat er schon lange nicht mehr getragen. Dass er sie jetzt wieder hervorgeholt hat, ist kein gutes Zeichen. Er zögert ein wenig, ehe er die nächste Frage stellt.
„Liebst du mich noch?“
„Was?“
Mit allem habe ich gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Ich war darauf vorbereitet, dass mir Gregor am liebsten eine Ohrfeige verpassen oder mich vielleicht sogar verprügeln würde. Doch stattdessen stellt er eine einfache Frage, die mir durch und durch geht und – ich kann nicht anders – ich beginne hysterisch zu lachen.
„Was für eine Scheißfrage!“ Ich kann nicht anders. „Ich ...“
Gregor ahnt, was ich sagen will, deshalb legt er mir seine große Hand auf den Mund, damit ich das Wort „Hass“ nicht aussprechen kann. Er weiß, dass ich jetzt „Ich hasse dich!“ in die Dunkelheit hinausschreie und das will er mit allen Mitteln verhindern. Denn mit Hass kann Gregor überhaupt nicht umgehen. Mein Mann will von allen geliebt werden, er hat das komplett verinnerlicht. Es ist dieses typische Politikersyndrom: immer den goldenen Mittelweg wählen, niemals anecken, aus Rücksicht auf die potenziellen Wähler. Gregors Wahlreden sind genauso wie seine Liebesschwüre: Sie versprechen viel, werden aber niemals konkret. Diese Sätze sind hübsch anzuhören und schweben durch Fernsehstudios, Bierzelte und Volkshochschulsäle wie schillernde Seifenblasen. Aber probiert bloß nicht, eine dieser Seifenblasen einzufangen und festzuhalten, dann zerplatzt sie wie eure Träume und nichts bleibt mehr davon
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