Die Fotografin
lässt sich aber wie immer eine Hintertür offen. „Wenn es dringend ist, wird er sich schon noch einmal melden! Er ist natürlich nervös wegen der Wahl und will ständig wissen, ob meine Frau krank ist oder nicht.“
„Danke! Das ist ja ziemlich das Letzte, das ich hören will!“ Unwillkürlich rücke ich zur Seite, um aus dem Einflussbereich von Gregors Ego zu kommen, aber es gelingt mir nicht, seine Aura ist zu mächtig.
„Verzeih, mein Liebling, das habe ich doch nicht so gemeint. Es ist nur … Ich muss die Dinge beim Namen nennen. Auch für die Presse, wenn jemand dahinter kommt. Bis jetzt ist gottlob noch nichts durchgesickert.“ Zur Bestätigung klopft sich Gregor mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Auch das habe ich noch nie bei ihm gesehen, auch das ist neu. Gregor ist innerhalb kürzester Zeit ein anderer Mensch geworden, jemand, den ich so nicht kenne.
„Wie lange muss ich noch hier bleiben?“, frage ich, um das Thema zu wechseln, um von Verrücktheiten wieder auf den normalen Alltag umzuschwenken.
„Einen oder zwei Monate. Hans, ich meine Dr. Mertens hat das zu entscheiden“, weicht er mir aus, studiert das Bild an der seitlichen Wand, aber in dem Rahmen ist nur eine weiße Fläche. Es ist der Strand von Marina Beach in Chennai. Da bin ich mir sicher. Ehe wieder die Bilder von Talvin und mir auftauchen, konzentriere ich mich auf das Wesentliche.
„Zwei Monate? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Instinktiv rücke ich immer weiter von Gregor weg. „Man kann mich nicht gegen meinen Willen hier behalten.“
„Es geschieht doch nur zu deinem Besten, Adriana! Jetzt ist aber Schluss mit der Diskussion. Hans und ich haben das so beschlossen!“
„Das werden wir doch mal sehen!“, imitiere ich Gregors Entschlossenheit und drücke wütend die Klingel, die um den Handgriff gewickelt ist, der über meinem Kopf von einem Metallgestell baumelt. Eine äthiopische Schwester taucht so schnell und lautlos auf wie eine Fata Morgana. Ihre kaffeebraune Haut hebt sich intensiv von dem Weiß der Wände und dem Mobiliar der Klinik ab, als sie den Ärmel ihres weißen Schwesternkittels hochschiebt, um auf die Uhr zu sehen, während sie meinen Puls fühlt. Auch Talvin hatte eine braune Haut, obwohl er Inder war. Aber über Talvin darf ich nicht mehr sprechen. So wie ich auch über Björn nicht sprechen darf. Und natürlich darf ich auch über Paul nicht reden. Das ist bei Todesstrafe verboten. Die Liste wird immer länger.
„Frau See“, gurrt die Schwester mit samtweicher Stimme, die perfekt zu ihrem exotisch schönen Gesicht passt. In blauen Kinderbuchstaben hat sie ‚Noori‘ auf ihre weiße Uniform gestickt. „Sie dürfen sich nicht aufregen. Ich hole gleich den Doktor.“
Es ist, als könne sie Gedanken lesen, denn ich habe noch überhaupt nicht nach Dr. Mertens gefragt, aber wahrscheinlich hat sie meinen hilfesuchenden Blick richtig gedeutet. Ich habe keine Ahnung ob Noori ihr Vor- oder Nachname ist.
„Noori? Ein schöner Name.“
„Das ist der Name meiner Mutter. Ich stamme aus der weiblichen Linie. Meine Schwester heißt Selassi, nach dem männlichen Zweig. So ist es Sitte bei uns“, antwortet sie auf meine Frage und bleckt ihre kleinen weißen Zähne, die mich an ein Nagetier erinnern. Ganz schön kompliziert, denke ich und verliere rasch wieder das Interesse.
Als Noori, die Krankenschwester verschwunden ist, wissen Gregor und ich im ersten Augenblick nicht, was wir reden sollen. Die peinliche Stille in meinem Krankenzimmer ist geradezu greifbar. Gregor scheint seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, seine Augen flackern und immer wieder leckt er sich über die Lippen. Ich will natürlich auch nicht allzu schwierig wirken. Schließlich will ich so schnell wie möglich diese Klinik verlassen, um wieder in mein altes Leben zurückzukehren.
In welches Leben eigentlich? Was ist überhaupt mein altes Leben? Ist es die Zeit vor dem Tod meines Sohnes oder die Zeit danach? Die Zeit, in der mir niemand glaubt, in der mich meine Freunde verraten. Die Zeit, in der ich ohne Familie bin und keinen Hafen anlaufen kann, der mir Schutz bietet? Zum Glück reißt mich Dr. Mertens aus diesen trüben Gedanken. Mit überbordender Energie stürzt er in das Krankenzimmer, umfasst Gregors ausgestreckte Hand mit seinen beiden Händen und drückt sie fest, so wie ich das sonst nur aus der Kirche kenne, wenn der Pfarrer den Hinterbliebenen eines Toten kondoliert. Bin ich für Gregor und Dr. Mertens
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