Die Fotografin
bereits so gut wie tot?
„Wie geht es uns denn heute?“ Aufgekratzt setzt sich Dr. Mertens an mein Bett und fährt sich mit gespreizten Fingern durch seine Haare. Prüfend sieht er mir in die Augen, fühlt meinen Puls, obwohl das die äthiopische Krankenschwester erst vor einer Minute getan hat.
„Sie sehen aber schon viel besser aus, Adriana!“ Er unterstreicht seine Diagnose mit einem aufmunternden Lächeln. „In zwei Wochen sind Sie wieder völlig auf dem Damm. Dann überlegen wir, welche Therapie wir anwenden.“
„Wieso Therapie? Mir geht es gut. Ich bin nur völlig außer Atem!“
Nachsichtig tätschelt mir Dr. Mertens die Hand. „Ist ja gut, Adriana! Natürlich fühlen Sie sich viel besser, im Vergleich zu den Tagen zuvor. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wollen keinen Rückfall provozieren.“
„Wieso halten Sie mich hier gegen meinen Willen fest, Dr. Mertens?“, frage ich heiser und greife nach dem Plastikbecher mit lauwarmem Wasser, der neben mir auf dem Nachttisch steht.
„Wie kommen Sie darauf, dass Sie gegen Ihren Willen hier festgehalten werden, Adriana?“ Dr. Mertens schüttelt überrascht den Kopf. „Sie selbst haben doch Ihre Einwilligung gegeben, dass wir Sie hier behalten sollen, bis Sie wieder ganz gesund sind.“
Dr. Mertens will nicht mit mir darüber diskutieren, denn er erhebt sich und verlässt das Zimmer. Zuvor tätschelt er mir noch aufmunternd die Wange. „Das kriegen wir schon in den Griff!“
Wenn ich meinen Kopf zur Seite drehe, kann ich aus meinem Fenster direkt auf den Besucherparkplatz sehen. Gregor geht mit weit ausholenden Schritten auf seinen Wagen zu, wahrscheinlich war er noch bei Dr. Mertens, um über mein weiteres Schicksal zu bestimmen, denke ich zynisch.
Aus einem weißen Fiat 500 steigt eine hübsche Frau mit schwarzen Haaren. Ich kneife die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. Jetzt wäre meine Kamera mit dem Teleobjektiv nötig, aber die hat ja Gregor an sich genommen. Trotzdem erkenne ich die Frau an ihren Bewegungen. Es ist Marion, meine beste Freundin. Jetzt hat sie Gregor entdeckt und läuft auf ihn zu. Winkt mit den Händen wie eine verliebte Frau, so jedenfalls interpretiere ich ihr Verhalten. Ich richte mich im Bett auf, um die Szene besser beobachten zu können. Marion steht vor Gregor und deutet mit ihrer Hand in meine Richtung. Sie redet anscheinend ununterbrochen und der Wind treibt ihr die schwarzen Haare ins Gesicht. Gregor antwortet und lächelt charmant, streicht Marion dabei mit seinen Händen über die Schultern. Sie sind so völlig versunken in ihr Gespräch, dass sie die Welt ringsherum vergessen und erst hochschrecken, als ein Auto hupt, denn sie verstellen die Ausfahrt. Marion hakt sich bei Gregor unter und zieht ihn über den Parkplatz. Sie redet hektisch auf ihn ein. Plötzlich bleibt Gregor stehen und sieht zu Marion hinunter. Auf mich macht diese Szene den Eindruck, als würde er sie gleich küssen. Sie stehen eng beisammen, fast schon innig. Es ist ein knisternder Moment, denke ich und verspüre einen Stich im Herzen. Dann schlingt Gregor seinen Arm um Marions Schulter und sie gehen einträchtig weiter über den Parkplatz, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden sind.
Langsam drehe ich meinen Kopf auf die andere Seite, starre auf die weiße Wand meines Krankenzimmers und beginne lautlos zu weinen.
Am späten Nachmittag sind alle verschwunden. Dr. Mertens und nicht einmal Noori, die äthiopische Krankenschwester, kommen mehr in mein Zimmer. Noch immer hänge ich an der Infusion, der mit aufreizender Langsamkeit eine rosa Flüssigkeit in meine Venen tröpfeln lässt, die mich glücklich machen soll. Aber das gelingt nicht, denn solange mein Kopf unglücklich ist, ist es auch mein Herz. Und wenn mein Herz unglücklich ist, dann bin ich es doch in jedem Fall.
„Marion, Marion, Marion!“ Wie eine Beschwörung stoße ich ihren Namen aus. Ich denke an eine Zeit, als wir uns als Schülerinnen mit Voodoo beschäftigt haben, einfach weil es so unglaublich cool war. Jetzt wünsche ich mir eine Puppe, die wie Marion aussieht und liebend gerne würde ich tausend Nadeln in diese Puppe stechen und sie für ihren Verrat mit einem Fluch belegen, der sie über den Tod hinaus verdammt.
Wenn ich nur wüsste, was sie auf dem Parkplatz mit Gregor besprochen hat! Und warum hat sie mich eigentlich nicht besucht, das muss doch einen Grund haben.
Ich presse die Augen fest zusammen, um meine Bildergalerie aufzurufen, diese
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