Die Fotografin
Klinik von Hans.“
„Ich will aber nicht in die Klinik!“, schreie ich mit überkippender Stimme. „Ich habe jemanden umgebracht. Verstehst du das nicht? Ich bin eine Mörderin!“
Eine Stunde später sitze ich in einem blendend weißen Zimmer der Privatklinik Mertens. Dr. Mertens, der als Hans fast schon ein Teil meiner Familie ist, sieht sich mit kummervoller Miene den Bericht des Polizeipsychologen von der Baumgartner Höhe an.
„Verdacht auf paranoide Schizophrenie“, murmelt er und lässt den Befund mit spitzen Fingern auf seinen vollkommen leeren Schreibtisch segeln. „Da hat der Herr Kollege aber ein wenig übertrieben.“ Er knipst sein Psychiaterlächeln an und streicht sich mit beiden Händen durch seine grauen und ungewöhnlich dichten Haare. Das macht er übrigens auch immer, wenn ich bei ihm eine Sitzung habe. Nach fast jedem Satz fährt er sich mit beiden Händen durch sein Haar. Wahrscheinlich, um die Aufmerksamkeit seines Gegenübers darauf zu richten. Auf diese dichten, schönen Haare. Denn sie sind das einzige hervorstechende Merkmal an Dr. Mertens. Ansonsten ist untersetzt und seine beeindruckende Nase ist vom exzessiven Rotweingenuss mit rötlich-blauen geplatzten Adern überzogen. Aber ich bin ja nicht hier, um mir über das Aussehen von Dr. Mertens den Kopf zu zerbrechen. Ich bin hier, weil mein Mann Gregor alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um mich aus der Polizeipsychiatrie zu holen und in einer diskreten Privatklinik bis nach dem Wahlkampf verschwinden zu lassen. So jedenfalls habe ich das Gespräch interpretiert, das noch immer in meinem Kopf herumgeistert. Aber ich hüte mich, Gregor oder Dr. Mertens zu erzählen, dass ich ihre Unterredung belauscht habe.
„Adriana“, sagt Dr. Mertens mit seiner leisen zurückhaltenden Stimme. „Sie hatten einen schlimmen Zusammenbruch und brauchen einige Wochen absolute Ruhe. Deshalb habe ich gemeinsam mit Ihrem Mann beschlossen, Sie stationär in meiner Klinik aufzunehmen, um die Symptome, unter denen Sie leiden, von Grund auf behandeln zu können.“
Warum reden einen Psychiater eigentlich immer mit dem Vornamen an und siezen einen trotzdem, geht es mir plötzlich durch den Kopf. Zeigen sie auf diese Weise ihre Überlegenheit?
„Ich hatte keinen Zusammenbruch!“, versuche ich dagegenzuhalten, doch meine Verteidigungslinie bröckelt, das spüre ich ganz deutlich. „Das waren Ihre Tabletten.“
„Welche Tabletten meinen Sie, Adriana?“ Wie gewohnt streicht sich Dr. Mertens seine Haare zurück, wirkt keinen Augenblick lang überrascht.
„Die rosa Pillen aus Amerika, die Sie mir in einer kleinen Tüte zugesteckt haben.“ Ich habe beschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. „Sie sollen angeblich das positive Denken unterstützen, haben aber schlimme Nebenwirkungen, bis hin zu Halluzinationen.“
„Sehen Sie, Adriana!“ Dr. Mertens lehnt sich entspannt in seinem Stuhl zurück und wippt langsam vor und zurück. „Sie sagen es ja selbst: Sie hatten Halluzinationen. Deshalb glauben Sie auch, schlimme Dinge gemacht zu haben. Ihre Erinnerung spielt Ihnen einen Streich. Sie glauben, jemanden umgebracht zu haben. Oder sehen jemanden, den es gar nicht gibt, während des Fotografierens.“
„Das wissen Sie also auch schon? Wer hat Ihnen davon erzählt?“, frage ich verzweifelt und kann mir nicht erklären, wer über mein Ausrasten beim heutigen Fotoshooting geplaudert hat. „Das war nur eine leichte Überreaktion, sonst nichts. Wer also hat Ihnen das erzählt?“
„Das tut doch nichts zur Sache, Adriana!“ Noch immer lächelt Dr. Mertens und sieht mich mit sorgenvoller Miene an. „Der Höhepunkt dieses ereignisreichen Tages war ja dann in dem indischen Laden, wenn ich richtig informiert bin. Wo Sie den indischen Besitzer für ihren eingebildeten Liebhaber gehalten haben.“
„Das stimmt nicht“, widerspreche ich trotzig und plötzlich fällt mir ein, dass ich Talvin in dem Laden fotografiert habe. „Wo ist meine Kamera? Da habe ich den Beweis. Ich habe Talvin Singh fotografiert und er ist auf den Bildern ganz deutlich zu erkennen.“
„Ach ja, Ihre Kamera.“ Wieder fährt sich Dr. Mertens durch seine gewellten Haare. „Ihre Kamera hat Gregor mitgenommen. Die brauchen Sie ja hier nicht.“
„Wieso nimmt Gregor meine Kamera mit? Sie ist ein Teil von mir. Das haben Sie selbst gesagt. Sie haben mir geraten, mich in die Arbeit zu stürzen, um zu vergessen.“ Der schrille Unterton in meiner Stimme entgeht mir nicht
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