Die Fotografin
überbelichteten Bilder, auf denen ich das blutige Messer in der Hand hielt. Ich habe es aufgehoben. Natürlich. Zuvor lag es noch auf dem Boden. Es gibt kein Bild in meinem Gedächtnis, das zeigt, dass ich Talvin tatsächlich erstochen habe. Er könnte natürlich auch bereits tot gewesen sein, als ich erwacht bin und ihn gefunden habe.
Woher weiß ich überhaupt, dass Talvin an keiner Uni studiert? Marions Ex-Freund hat es recherchiert. Angeblich. Ich habe mich auf das Wort von Marion verlassen. Marion war auch in der Dachgeschosswohnung, das jedenfalls hat sie mir am Handy gesagt und ich habe es einfach so geglaubt. Aber was ist, wenn Marion lügt?
Einmal im Kopf, breitet sich dieser Gedanke aus wie ein Flächenbrand. Alle Informationen kommen von Marion. Ob es Gregor oder Dr. Mertens ist, sie wissen nur von Marion, dass Talvin nicht existiert und ich infolgedessen wieder unter einer Wahnvorstellung leide wie damals bei Björn. Das Ablaufmuster ist auffällig gleich und Marion weiß natürlich über den Fall Björn Bescheid. Deshalb ist es für sie auch ein Leichtes, mir jetzt dieselben Symptome im Zusammenhang mit Talvin unterzuschieben.
Doch welches Motiv könnte Marion haben? Im Augenblick fällt mir nichts ein. Sie hat Talvin ja nicht einmal gekannt, sondern nur einmal flüchtig gesehen. Aber das hat sie abgestritten! Merkwürdig, weshalb hat sie das getan? Jetzt erinnere ich mich auch wieder an Rauls Bemerkung, dass er Marion mit einem arabisch aussehenden Mann in einer Bar gesehen hat. Der Mann könnte auch ein Inder, könnte Talvin gewesen sein. Doch wozu der ganze Aufwand, wenn ich Talvin doch verlassen habe? Das ergibt alles keinen Sinn.
Aber ich darf mich nicht ausschließlich auf Marions Wort verlassen, ich muss selbst herausfinden, wo Talvin ist. Es muss doch noch einen anderen Weg geben, die Existenz von Talvin zu beweisen. Irgendwo muss es einen Hinweis geben, dass er existiert hat. Etwas ist immer vorhanden.
Konzentriert durchforste ich mein geistiges Bildarchiv. Mein Schädel pocht, so schnell rasen die Bilder an meinem geistigen Auge vorbei. Doch ich kann nichts finden!
Dann gelange ich zu der Szene, als ich Talvin mit diesem Mädchen im Schlafzimmer überrascht habe. Diese Bilder überlappen sich mit jenen des Fotoshootings. Das vermasselte Fotoshooting, nach dem ich meine kleine Karriere als Fotografin wohl endgültig begraben kann. Genauso wie meine langjährige Freundschaft zu Raul. Ich sehe das Schlafzimmer mit den vielen bunten Plastikeimern. Das Mädchen mit den Fetischhandschuhen und der perversen Gummischürze, das vor Talvin in eindeutiger Stellung kniet. Ich erkenne einen nackten Rücken und eine Schulter mit einem Tattoo. Die Szene gefriert zu einem einzelnen Bild. Das Bild wird groß aufgezoomt. Mein Blick richtet sich auf das Tattoo. Es ist ein Tinkerbell-Tattoo. Deshalb hat mich in der Kindertagesstätte auch die Peter-Pan-Geschichte so interessiert. Jetzt fällt mir endlich der Zusammenhang ein. Tinkerbell, die Fee, die Peter Pan und Wendy begleitet. Wenn dieses Mädchen existiert, dann kann sie die Existenz von Talvin bestätigen!
Aber wie finde ich dieses Mädchen, wo finde ich Tinkerbell? Flattert sie wie die Märchenfee durch die nächtliche Stadt? Ist sie auf der Suche nach dem Kick, mit ihren Fetischgummihandschuhen? Es ist wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt. Wahrscheinlich ist sie gar nicht aus Wien, sondern aus Bratislava, Prag oder Riga, denn sie hat in einer osteuropäisch klingenden Sprache geredet, als sie die Treppe hinuntergelaufen ist. Also wieder in meinem Bilderarchiv zurückblättern bis zu der Szene, in der ich im Schlafzimmer aufgetaucht bin.
„See you at the Red Room!“, höre ich das Mädchen in schlechtem Englisch mit hartem osteuropäischem Akzent noch rufen. Sie trifft Talvin also öfter im „Red Room“, einem Club für Models, Fotografen und Werbeleute. Sie ist groß und dünn, sieht aus wie ein Model, das könnte hinkommen. Ich brauche also nur die Modelagenturen abzuklappern, um sie aufzuspüren. Oder ich gehe in den „Red Room“ und warte dort, bis sie auftaucht. Plötzlich fühle ich mich leicht und beschwingt. Dieses Mädchen ist das Licht am Ende des Tunnels. Diese Tinkerbell-Fee zu finden, ist ab sofort mein Ziel. Der Gedanke daran gibt mir neuen Lebensmut und putscht mich mit frischer Energie auf.
Noori, die äthiopische Krankenschwester, steht mit einem Mal vor mir. Mit
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