Die Frau am Tor (German Edition)
Sterben denken, über das er aus verschiedenen Teilen der Erde berichtet hatte, mehr als über das Leben, an Bilder von Menschen, die auf fast jede nur denkbare Weise zu Tode gekommen waren, in Kriegen, bei Putschversuchen und Naturkatastrophen, und deren Schicksal jahrzehntelang den Stoff hergegeben hatte für all die Geschichten, die der Reporter Robert Kessler für gut zahlende Zeitschriften und Magazine geschrieben hatte. Ohne es zu wollen, spulte er im Geist den notorischen Kanon jener Fragen ab, die jedem Jungjournalisten als erstes beigebracht werden - die Fragen nach dem Wer-wie-was-wo-wann, die jedes Mal beantwortet werden müssen, wenn etwas Berichtenswertes entstehen soll.
Robert Kessler, sagte er stumm zu sich selbst, nach Lage der Dinge hast du es hier mit einer anderen Art von Geschichte zu tun, als du sie bisher je erlebt hast, mit einer völlig anderen.
Obschon er keinen Zweifel daran hatte, dass der Mann tot war, beugte er sich über ihn und befühlte den Hals, der noch warm war, aber keinerlei Anzeichen eines Pulsschlags erkennen ließ. Die Frau stand zitternd an die Wand neben der Küchentür gedrückt, knetete ihre Hände und stammelte vor sich hin:
“ Oh Gott, was soll ich tun? Ich habe Angst, so furchtbare Angst. Bitte helfen Sie mir doch.”
“ Jetzt beruhigen Sie sich doch erstmal”, sagte er wieder, mit einer Stimme, die seinen eigenen Ohren fremd war, und kam sich dabei wie ein Narr vor.
“ Und, bitte, ziehen Sie sich etwas an.”
Er konnte es nicht mehr ertragen, immerzu ihren nackten Unterleib ansehen zu müssen und die Brüste, die sich deutlich unter dem dünnen Hemd abzeichneten. Sie sammelte die Kleidungsstücke vom Boden auf, warf sie aber gleich wieder in eine Ecke und ging auf unsicheren Beinen in einen der übrigen drei Räume, die von der Diele abzweigten, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Er hörte sie unter leisem Wimmern an einem Schrank hantieren. Als sie wenig später wieder herauskam, trug sie engsitzende Jeans, ein schwarzes T-Shirt und weiße Sneakers.
“ Können wir uns irgendwo setzen?”, fragte er, bemüht, so normal wie möglich zu klingen. Sie öffnete die mittlere der Türen, schaltete das Licht an und führte ihn in eines der Wohnzimmer, das durch eine Flügeltür mit einem weiteren verbunden war. An den Wänden hingen einige großformatige, wild-bunte Gemälde. Die Einrichtung – ein Designer-Sofa, drei zerbrechlich wirkende Korbsessel, ein Glastisch sowie ein in die Wand eingelassener Flachbildschirmfernseher mit integrierter Musikanlage – wirkte teuer und war für seinen Geschmack eine Spur zu absichtsvoll minimalistisch gehalten. Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine halbvolle Rotweinflasche. Sie ließ sich in einen der Sessel fallen, stand aber sofort wieder auf und fragte ihn, ob er etwas trinken wolle. Ohne seine Antwort abzuwarten verschwand sie im Nebenzimmer und kehrte mit einem frischen Glas zurück. Es war mehrere Jahre her, dass er zuletzt Alkohol zu sich genommen hatte, und er zögerte einen Moment. Dann füllte er das Glas, trank zwei tiefe Züge und ergab sich dem Gefühl, das vom Magen her in einer warmen Welle durch seinen Körper und seinen Kopf rieselte.
“ Wer ist der Mann? Und weshalb haben Sie ihn umgebracht?”, fragte er. “Das haben Sie doch, oder?”
Statt etwas zu erwidern, kauerte sie sich mit angezogenen Beinen in ihren Sessel, vergrub das Gesicht in den Händen und brach in ein hemmungsloses Weinen aus.
“ Bitte, Sie müssen...Sie müssen mir helfen”, stotterte sie schluchzend, “Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir helfen! Bitte!”
“ Wer ist der Mann?”, wiederholte er.
“ Ein früherer...jemand, mit dem ich mal zusammen war, früher, eine ganze Zeit bevor ich geheiratet habe...Er hat mich....er wollte mich...Irgendwie musste ich mich doch wehren, ich meine, ich musste ihn doch davon abhalten, dass er mich....Aber ich wollte doch nicht, dass er stirbt...Es war ein schrecklicher Unfall, ein Unglück.”
Ihre Worte gingen beinahe in dem Schluchzen unter und waren kaum zu verstehen. Plötzlich sprang sie auf.
“ Wo ist denn nur meine Handtasche? Ich brauche meine Handtasche. Oh Gott, ich glaube, sie ist in der Küche auf dem kleinen Tischchen. Aber ich kann doch jetzt nicht dort hineingehen.”
Er stand auf und durchquerte die Diele und stieg über den Toten hinweg, was nicht ganz einfach war. Als er ihr die Handtasche reichte, begann sie sofort mit hastigen Händen darin zu
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