Die Frau aus Alexandria
um.
Zwei Abende später trafen sie sich am selben Tisch in der Ecke des Gasthauses. Zu einem einfachen dunklen Jackett trug Tellman ein
weißes Hemd, dessen Kragen noch steifer wirkte als sonst. Gracie hatte ihr bestes blaues Kleid angezogen und als einziges Zugeständnis daran, dass es sich um eine besondere Gelegenheit handelte, das Haar nicht ganz so straffnach hinten gekämmt wie sonst, sodass es ein wenig unter ihrer Haube hervorsah. Kaum hatte sie einen Blick auf Tellmans Gesicht geworfen, als jeder Gedanke an sie selbst mit einem Schlage verschwand.
»Was is?«, fragte sie eindringlich, sobald sie sich gesetzt und ihre Bestellung, Strandschnecken mit Brot und Butter, aufgegeben hatten. »Was is, Samuel?« Sie merkte nicht einmal, dass sie seinen Vornamen benutzte.
Er beugte sich vor. »Mehrere Leute haben gesehen, wie Stephen Garrick das Haus verlassen hat, und sie haben den jungen Mann beschrieben, der bei ihm war: blond, Anfang zwanzig, angenehme Züge. Ihren Worten nach hat es sich um einen Dienstboten gehandelt, höchstwahrscheinlich um einen Kammerdiener. Sie hatten nur zwei kleine Gepäckstücke mit, weder Reisekoffer noch Schrankkoffer. Mr Garrick sei so krank gewesen, dass man ihn fast aus dem Haus habe tragen müssen. Zwei Männer mussten ihm dabei helfen, in die Kutsche zu steigen. Es war seine eigene, kein Krankenwagen, und auf dem Bock saß der Kutscher der Familie Garrick.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie rasch.
»Vom Laternenanzünder«, sagte er. »Er fing gerade mit seiner Arbeit an.«
»Is sechs Uhr abends nich ’ne komische Zeit, um nach Frankreich zu fahren?«, fragte sie überrascht. »Hat das womöglich mit den Gezeiten oder so zu tun? Von wo aus is er denn gefahren — vom Londoner Hafen?«
»Es war sechs Uhr morgens«, entgegnete er. »Er hat die Laternen ausgemacht, nicht an. Das Sonderbare ist: Ich habe die Liste aller Abfahrten vom Londoner Hafen an jenem Tag durchgesehen — auf keinem der Schiffe nach Frankreich war ein Mr Garrick, weder allein noch in Begleitung.«
Das Bestellte wurde gebracht. Tellman dankte der Bedienung und erklärte Gracie, die Strandschnecken seien hier besonders gut.
Sie nahm den langen Dorn zur Hand, mit dem man das Fleisch aus dem Gehäuse hervorholte, fragte aber, bevor sie sich endgültig ihrer Mahlzeit zuwandte: »Vielleicht sind die von Dover aus gefahren? Manche Leute machen das doch, oder?«
»Schon. Aber ich habe mich am Bahnhof erkundigt, und der Gepäckträger, der an dem Tag auf dem Bahnsteig war, von wo die Züge nach Dover fahren, hat gesagt, den ganzen Tag sei niemand dagewesen, auf den die Beschreibung gepasst hätte. Bestimmt hätte er sich an jemanden erinnert, der besondere Hilfe brauchte, aber so jemand sei nicht aufgetaucht, nur Leute mit viel und schwerem Gepäck.«
Sie war verwirrt. »Wenn sie nich von London und nich von Dover gefahren sind – von wo dann?«
»Sie könnten von einem anderen Hafen in ein anderes Land auf dem Kontinent gereist sein, aber ebenso gut auch an einen beliebigen Ort in England oder Schottland«, gab er zur Antwort. »Doch wissen wir, dass Stephen Garrick nicht gesund ist und das englische Klima ihm nicht bekommt. Da wird er kaum den Winter in Schottland verbringen wollen!« Er schob das letzte Schneckenhaus beiseite und schluckte den letzten Bissen Brot herunter.
Jetzt wusste Gracie erst recht nicht, was sie von der Sache halten sollte. »Aber der alte Mr Garrick hat ganz deutlich gesagt, dass sein Sohn nach Südfrankreich is«, wandte sie ein. »Warum sollte er Lady Vespasia belüg’n? Reiche Leute verreis’n doch oft, wenn se krank sind.«
»Ich weiß nicht recht«, gab Tellman zu. »All das ergibt keinen Sinn. Aber ganz gleich, wohin sie wollten, sie sind auf keinen Fall an dem Tag auf ein Schiff gegangen und nach Frankreich gefahren.« Er machte ein sehr bedenkliches Gesicht. »Sie haben Recht, dass Sie sich Sorgen machen, Gracie. Wenn Menschen ohne erkennbaren Grund die Unwahrheit sagen, bedeutet das gewöhnlich, dass etwas Schlimmeres dahintersteckt, als man auf den ersten Blick annimmt.« Er schwieg eine Weile, das Gesicht nachdenklich verzogen.
»Was?«, bedrängte sie ihn.
Er sah sie an. »Wenn die beiden weder einen Zug noch ein Schiff erreichen wollten, warum sind sie dann in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen? Sie müssen ja um fünf aufgestanden sein, als es noch dunkel war.«
Ein bedrückender Gedanke kam ihr. »Weil se nich wollt’n, dass man se sieht«, sagte
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