Die Frau aus Alexandria
Sängerin folgte ein Clown in einem viel zu weiten Anzug, während sein Partner wohl der größte und dürrste Mensch war, den es auf der Welt gab. Das Publikum brüllte immer noch vor Lachen, als der Schlangenmensch auftrat, dem ein Jongleur, Akrobaten, ein Zauberkünstler und zum Schluss Tänzerinnen folgten.
Gracie fand alle gut, aber am besten von allem gefiel ihr die Musik, ganz gleich, ob es traurige oder fröhliche Lieder waren, Einzelgesänge oder Duette. Am allerschönsten war es für sie, wenn das Publikum den Refrain mitsang. Erst als sie Tellman am Hintereingang des Hauses in der Keppel Street dankte und sich von ihm verabschiedete, kam ihr die Welt außerhalb des kleinen Zauberkreises, in dem sie sich bewegt hatte, wieder zu Bewusstsein.
Eigentlich hatte sie mit einer gewissen Würde sagen wollen, es sei sehr schön gewesen, damit es ihm nicht zu Kopf stieg und er womöglich annahm, er habe sie an einen Ort mitgenommen, wo sie noch nie zuvor war. Es war nicht gut, wenn man zuließ, dass sich ein Mann einbildete, man halte ihn für etwas Besonderes oder man müsse ihm für etwas dankbar sein.
Doch vergaß sie all ihre Vorsätze und sagte voller Begeisterung: »Das war herrlich! Noch nie hab ich so fantastische ...« Sie hielt erschrocken inne. Jetzt war es zu spät für die damenhafte Haltung, die sie sich vorgenommen hatte. Sie holte tief Luft. Im Licht der Straßenlaterne sah sie die Freude auf seinem Gesicht, und mit
einem Mal war sie ganz und gar sicher, wie wichtig ihm das alles war. Er wirkte so verletzlich, dass sie keinen anderen Wunsch kannte, als ihn wissen zu lassen, wie glücklich sie war. Rasch beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.
»Danke, Samuel. Das war der schönste Abend, den ich je erlebt hab.«
Bevor sie einen Schritt zurück tun konnte, legte er den Arm um sie und drehte seinen Kopf ein wenig, um sie auf den Mund küssen zu können. So sanft er das tat, so deutlich war zu erkennen, dass er nicht im Traum daran dachte, sie loszulassen. Sie versuchte, sich ein wenig zurückzuziehen, einfach um zu sehen, ob das ging, und spürte mit einem Wonneschauer, dass es unmöglich war.
Als er seinen Kuss bekommen hatte, ließ er sie los, und sie rang nach Atem. Sie wollte etwas Witziges oder zumindest Lustiges sagen, aber ihr fiel nichts ein. Es war nicht der richtige Augenblick für Worte, die nichts bedeuteten.
»Gute Nacht«, sagte sie atemlos.
»Gute Nacht, Gracie.« Auch seine Stimme klang ein wenig belegt, als überrasche ihn die Situation selbst.
Sie wandte sich um, tastete nach dem Türknauf, drehte ihn und ging in die Spülküche. Während ihr Herz wie ein Hammer schlug, lächelte sie, als habe ihr soeben jemand das Lustigste und zugleich Herrlichste auf der Welt erzählt.
Am nächsten Vormittag spürte Gracie ihre Freundin Tilda bei ihren Besorgungen auf und brachte sie in die Küche in der Keppel Street, wo Tellman bereits mit Charlotte am Tisch saß, um die Sache zu bereden. So flüchtig, dass niemand es merkte, sahen sie und Tellman einander in die Augen, und sie erkannte auf seinen Lippen den Anflug eines warmen Lächelns, das aber sogleich wieder verschwand. Er wandte sich dem Thema zu, das alle beschäftigte.
»Nehmen Sie Platz, Tilda«, sagte Charlotte freundlich und wies auf einen freien Stuhl. Da bereits eine Kanne Tee auf dem Tisch stand, sodass keine Pflichten zu erfüllen waren, setzte sich Gracie dazu.
»Ha’m Se was rausgekriegt?«, erkundigte sich Tilda besorgt. »Gracie wollte mir auf der Straße nix sagen.«
»Wir wissen noch nicht, wo er sich aufhält«, sagte Charlotte. Es war sinnlos, der jungen Frau falsche Hoffnungen zu machen; die Enttäuschung wäre danach nur um so grausamer. »Aber wir haben etwas in Erfahrung gebracht. Der alte Mr Garrick hat einer Bekannten von mir im Gespräch gesagt, sein Sohn Stephen sei wegen seiner Gesundheit in den Süden Frankreichs gereist und habe seinen Kammerdiener mitgenommen, damit sich dieser um ihn kümmern kann.« Als sie sah, wie Erleichterung auf Tildas Züge trat, empfand sie sogleich Gewissensbisse. »Mr Tellman hier hat beim Versuch festzustellen, ob es sich so verhält, jemanden getroffen, der gesehen hat, dass zwei Personen, die höchstwahrscheinlich Stephen Garrick und Ihr Bruder Martin waren, das Haus am Torrington Square verlassen haben. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass sie von London oder Dover aus mit dem Schiff nach Frankreich gefahren sind. Auch lässt sich kein Zug
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