Die Frau aus Alexandria
sie. Mit einem Mal war die Frage, wer wen liebte und was man da sagen oder tun sollte, in die Ferne gerückt. Sie sah ihn an und sagte flehentlich: »Wir müss’n das unbedingt rauskrieg’n, Samuel. Wenn so einer wie der alte Mr Garrick sogar das eig’ne Personal belügt un Tilda nich weiß, wo ihr Bruder is, hat das bestimmt nix Gutes zu bedeut’n.«
Er widersprach nicht. »Der Haken ist, dass man uns kein Verbrechen gemeldet hat«, sagte er finster. »Mr Pitt ist in Ägypten, da können wir ihn nicht einmal um Hilfe bitten.«
»Dann müssen wir das eb’n selbst mach’n«, sagte sie entschlossen. »Das is mir zwar nich recht, Samuel, aber was bleibt uns übrig?«
Ganz spontan legte er seine Hand auf ihre, sodass sie völlig darunter verschwand. »Mir auch nicht, aber Sie haben Recht — uns bleibt keine Wahl. Wir würden es uns nie verzeihen, wenn wir der Sache nicht nachgingen. Aber dazu müssen wir mehr wissen. Im Augenblick haben wir keine Fährte, der wir folgen könnten. Wir werden also morgen noch einmal mit Tilda sprechen; sie soll uns alles berichten, was Martin je über die Familie Garrick gesagt hat.«
»Ich hol se, wenn se ihre Besorgung’n macht, so gegen halb zehn«, nickte Gracie. »Aber sie hat mir nie gesagt, was Martin ihr über die Garricks erzählt hat, da weiß se vielleicht gar nix. Was mach’n wir dann?«
»Noch einmal mit dem Dienstmädchen im Hause Garrick reden. Sie scheint ihn doch recht gut gekannt zu haben«, sagte Tellman. »Allerdings wäre das nicht so einfach. Wenn etwas nicht stimmt, kann sie nicht offen sprechen, solange sie dort ist, weil sie fürchten muss, ihre Stellung zu verlieren.« Er bemühte sich sehr, nicht zu zeigen, was er empfand, doch gelang ihm das nicht.
»Möchten Sie als Nachtisch ein Stück Apfelkuchen?«, fragte er unvermittelt.
»Ja ... bitte.« Die Strandschnecken waren in der Tat köstlich gewesen, hatten sie aber trotz Brot und Butter nicht richtig satt gemacht. Außerdem gab es nichts Besseres als ein Stück Apfelkuchen mit so viel Sahne darauf, dass ein Löffel darin stehen kann.
Also ließ Tellman den Nachtisch kommen, zahlte zum Schluss, und sie verließen das Gasthaus. Draußen in der Abendkühle schlenderten sie etwa einen Kilometer nebeneinander über den belebten Gehweg zum Varietee-Theater. Ein Leierkastenmann spielte ein beliebtes Lied, und eine Hand voll Leute stimmte mit ein. Droschken hielten an, denen weitere Besucher entstiegen. Fliegende Händler priesen Süßigkeiten an, Getränke, heiße Pasteten, Blumen und allerlei Plunder. Dutzende Menschen wie sie drängten sich vor dem Eingang, meist Paare, Arm in Arm. Manche waren etwas auffälliger gekleidet, einige Männer gingen gekünstelt aufrecht, Frauen lachten und drehten sich dabei, dass die Röcke flogen. Weil alle darauf bedacht schienen, möglichst rasch in das Theater zu gelangen, gab es ein richtiges Gedränge.
Gracie musste sich bei Tellman einhängen, um nicht von der Menge weggerissen zu werden. Im Foyer herrschte lautes, aufgeregtes Stimmengewirr, und immer wieder stieß jemand sie an oder trat ihr auf den Fuß.
Endlich waren sie im Zuschauerraum. Tellman hatte Sitzplätze ziemlich weit vorn im Parkett besorgt, sodass sie gut hören und sehen konnten. Das war wunderbar, ganz anders als bei den wenigen Malen, die sie bisher im Varietee gewesen war. Da hatte sie ganz hinten gestanden und kaum etwas mitbekommen. Ihr war bewusst, dass sie eigentlich der armen Tilda helfen und darüber nachdenken müsste, was sie tun konnten, um festzustellen, was mit Martin Garvie geschehen war, selbst wenn es möglicherweise zu spät war, um ihm zu helfen. Aber für den Augenblick vertrieben die Lichter, die ganze Atmosphäre und das Bewusstsein, das allmählich von ihr Besitz ergriff, dass es sich hier nicht um ein Einzelereignis
handelte, sondern um den Anfang von etwas Dauerhaftem, alles andere aus ihren Gedanken.
Das Orchester setzte ein. Der Conferencier machte einige herrliche Späße, die das Publikum zum Lachen brachten und ihm Äußerungen der Bewunderung entlockten. Dann hob sich der Vorhang vor der leeren Bühne. Eine junge Frau in einem mit blitzenden Pailletten besetzten Kleid trat ins grelle Scheinwerferlicht. Sie sang ziemlich gewagte beschwingte Lieder, und obwohl Gracie genau wusste, was sie bedeuteten, schloss sie sich an, als das Publikum mit einstimmte. Es waren glückliche Augenblicke, in denen sie sich von der Hochstimmung um sie herum getragen fühlte.
Auf die
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