Die Frau aus Alexandria
gekümmert hatte. Überall hing der
Geruch nach verfaulendem Holz in der Luft. Es kam ihr vor, als müsse sie ersticken. Obwohl sie kein bestimmtes Geräusch hätte benennen können, war es an dem Platz alles andere als ruhig. Ratten huschten über das Steinpflaster, Wasser tropfte, die leichte Brise trieb Abfälle hin und her, arbeitendes Gebälk knarrte und stöhnte.
»Dort drüben«, sagte Sandeman und wies auf eine von Flecken übersäte Tür, die sich fast von selbst öffnete, als er sie anstieß. Hinter einem kleinen Vorraum sah man einen langen Gang, an dessen Ende in einer Art Saal ein großes Feuer im Kamin brannte. Ein halbes Dutzend Menschen saßen am Boden davor. Sie drängten sich dicht aneinander, ohne miteinander zu sprechen. Es dauerte eine Weile, bis Charlotte begriff, dass sie entweder schliefen oder bewusstlos waren.
Mit erhobenem Finger mahnte Sandeman sie zu schweigen und ging nahezu geräuschlos über den Steinfußboden zu einem Tisch in der rechten Ecke des Raumes, an dem zwei Stühle standen.
Sie folgte ihm und setzte sich.
»Entschuldigung«, sagte er. »Ich kann Ihnen nichts anbieten und habe auch keinen besseren Raum als diesen zur Verfügung.« In dem bedauernden Lächeln, mit dem er das sagte, lag keinerlei Verlegenheit. Auf seinem abgezehrten Gesicht ließen sich deutlich die Spuren des Hungers erkennen. »Um wen geht es?«, fragte er. »Falls ich Ihnen nicht sagen kann, wo er sich befindet, kann ich ihn zumindest wissen lassen, dass Sie nach ihm gefragt haben. Vielleicht sucht er Sie dann ja auf. Sie werden gewiss verstehen, dass ich nicht weitergeben darf, was man mir vertraulich mitteilt. Es kommt vor, dass ein Mann ...« Er zögerte, sah sie aufmerksam an, vielleicht, weil er versuchte, aus ihren Empfindungen auf den Mann zu schließen, nach dem sie suchte.
Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor und versuchte sich die verzweifelten Frauen vorzustellen, die hergekommen waren, weil sie hofften, einen geliebten Gatten, Bruder oder Sohn wiederzufinden, den sie verloren hatten durch Erlebnisse, die er nicht mit ihnen teilen konnte oder deren Last er ohne das Vergessen, das Alkohol oder Opium schenkt, nicht zu ertragen vermochte.
Sie musste ihm unbedingt reinen Wein einschenken. »Es geht nicht um jemanden, der mir nahe steht, sondern um den Bruder einer mir bekannten jungen Frau, der verschwunden ist. Ihr Kummer ist zu groß, als dass sie selbst nach ihm suchen könnte, auch hätte sie nicht die Zeit dazu. Sie könnte darüber leicht ihre Stellung verlieren und nicht ohne weiteres eine andere finden.«
Sein besorgter Ausdruck änderte sich nicht. »Und um wen geht es?«
Bevor sie antworten konnte, wurde die Eingangstür aufgerissen, krachte gegen die Wand und prallte zurück, wobei sie den Menschen traf, der gerade hereinkam. So heftig war der Stoß, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel, wo er wie ein Lumpenbündel liegen blieb.
Nach einem kurzen Blick auf Charlotte stand Sandeman wortlos auf und ging hinüber. Er bückte sich, schob die Hände unter den Mann und stellte ihn mit beträchtlicher Anstrengung auf die Füße. Ganz offensichtlich war der Mann betrunken. Er mochte Mitte fünfzig sein, Tränensäcke hingen unter seinen Augen, die vor sich hinstarrten, ohne etwas zu erfassen. Er war völlig verdreckt, sein Haar war verfilzt, er hatte sich mehrere Tage nicht rasiert und roch so stark, dass Charlotte das sogar von ihrem Platz aus wahrnahm.
Sandeman sah ihn verzweifelt an. »Komm rein, Herbert, und setz dich. Du bist ja bis auf die Haut nass.«
»Bin hingefallen«, brummelte der Ankömmling vor sich hin und folgte Sandeman mit schleppendem Schritt.
»In den Rinnstein, wie es aussieht«, erwiderte Sandeman trocken.
Und so riecht es auch, ging es Charlotte durch den Kopf. Sie hatte das Bedürfnis, ihren Stuhl ein Stück wegzurücken, doch schämte sie sich, als sie sah, wie achtungsvoll Sandeman mit dem Mann umging.
Dieser gab keine Antwort, ließ sich aber zu der Bank vor dem inzwischen niedergebrannten Feuer führen und sank darauf nieder, als sei er am Ende seiner Kräfte. Keiner der anderen dort nahm die geringste Notiz von ihm.
Sandeman ging zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Er nahm einen Schlüssel vom Ring, den er am Gürtel trug, schloss die Tür auf und suchte eine Weile in dem Schrank. Schließlich holte er eine große graue Decke hervor, die zwar grob aussah, aber zweifellos wärmen würde.
Neugierig sah ihm Charlotte zu. Für
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