Die Frau aus Alexandria
Stattdessen ging sie in die warme, helle Küche, in der es sich die Katzen im Flickkorb neben dem Herd gemütlich gemacht hatten, ohne auf den Regen zu achten, der an die Fensterscheiben klopfte, und berichtete Gracie über ihren Besuch bei Sandeman. Keiner von beiden fiel etwas ein, was sie noch unternehmen konnten, solange sie nicht mehr über die Sache wussten. Trotz der warmen, angenehmen Atmosphäre in der Küche hatten beide das Gefühl, eine bittere Niederlage erlitten zu haben.
Zwar hatte sich am nächsten Abend nichts geändert, aber es gab dies und jenes im Haushalt zu tun, was sie ablenkte. Alles war besser, als müßig herumzusitzen. Gracie machte Ordnung in den Schränken, und Charlotte flickte Kissenbezüge, als es kurz nach neun an der Haustür klingelte.
Da Gracie gerade mit den Armen voller Wäsche auf einem Hocker stand, öffnete Charlotte selbst.
Vor der Tür stand ein ausgesprochen elegant gekleideter Herr in einem Anzug, bei dessen Anblick Pitt die Augen weit aufgerissen hätte. In sein intelligentes schmales Gesicht waren tiefe Linien eingegraben, und seine Augen waren so dunkel, dass sie im Licht der Straßenlaterne schwarz zu sein schienen. Sein dichtes, dunkles Haar war von vielen grauen Fäden durchzogen.
»Mrs Pitt«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung.
»Ja«, gab sie zurückhaltend zur Antwort. Auf keinen Fall würde sie einen Fremden ins Haus lassen, und es war vermutlich nicht angeraten, ihm zu sagen, dass Pitt nicht da war. »Was kann ich für Sie tun?«
In seinem kaum wahrnehmbaren Lächeln lagen Selbstironie und ein guter Schuss Selbstsicherheit. Wahrscheinlich war ihm nicht bewusst, wie charmant er wirkte.
»Guten Abend. Ich heiße Victor Narraway. Da sich Ihr Mann in Alexandria befindet, wohin ich ihn bedauerlicherweise schicken musste, wollte ich Ihnen einen Besuch abstatten, um mich zu vergewissern, dass es Ihnen gut geht – und dass das auch so bleibt.«
»Haben Sie Zweifel daran, Mr Narraway?« Sie war verblüfft angesichts der Erkenntnis, wer der Besucher war, und in ihr regte sich eine leise Furcht, dass er etwas Schlimmes über Pitt wissen mochte, was ihr unbekannt war. Bisher hatte sie noch nichts von ihm gehört, aber dazu war es auch viel zu früh, denn ein Brief würde viele Tage brauchen. Sie bemühte sich um Haltung. »Warum sind Sie gekommen, Mr Narraway? Seien Sie bitte ehrlich.«
»Ich habe es Ihnen gesagt, Mrs Pitt«, erwiderte er. »Darf ich hereinkommen?«
Stumm trat sie einen Schritt zurück, er kam herein und warf dabei einen flüchtigen Blick auf den Stuck an der Decke der Diele. Nachdem sie die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, machte sie eine einladende Handbewegung zum Wohnzimmer.
Sie folgte ihm hinein und drehte die Gaslampen hoch. Da sie kein Feuer gemacht hatte, hoffte sie, er werde nicht lange bleiben. Mit pochendem Herzen sah sie ihn beinahe herausfordernd an. »Haben Sie etwas über meinen Mann gehört?«
»Nein, Mrs Pitt«, sagte er sofort. »Ich bitte um Entschuldigung, falls ich Ihnen diesen Eindruck vermittelt habe. Soweit ich weiß, ist er gesund, und es fehlt ihm nichts. Andernfalls hätte man mich vom Gegenteil informiert. Ich bin ausschließlich hier, weil mir Ihre Sicherheit am Herzen liegt.«
Bei aller Höflichkeit schien ihr in der Art, wie er das sagte, eine gewisse Überheblichkeit mitzuschwingen. Hatte es damit zu tun, dass er ein Herr war, Pitt hingegen der Sohn eines Wildhüters, woran auch seine einwandfreie Sprechweise nichts änderte? Eine Selbstsicherheit, die jemand nicht erworben, sondern die man ihm in die Wiege gelegt hatte, ließ sich jederzeit an Haltung und Auftreten eines Menschen erkennen.
Auch wenn Charlotte nicht wie Vespasia dem Hochadel angehörte, stammte sie doch aus einer guten Familie. So sah sie ihn mit einer kühlen Herablassung an, für die sich nicht einmal Vespasia hätte zu schämen brauchen. Dass sie ein altes Kleid mit geflickten Manschetten trug, war dabei unerheblich.
»Tatsächlich? Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Narraway, aber durchaus unnötig. Mein Mann hat vor seiner Abreise alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, sodass es mir an nichts fehlt.« Sie meinte damit die finanziellen Angelegenheiten, doch wäre es stillos gewesen, das zu sagen.
Narraway lächelte kaum wahrnehmbar. Eigentlich war es nur ein leichtes Nachlassen der Spannung seiner Lippen. »Das hatte ich nicht anders erwartet«, sagte er. »Aber vielleicht haben Sie ihm nichts von Ihrer Absicht
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