Die Frau aus Alexandria
ein Nachtlager, überlegte sie, dürfte das kaum genügen, doch sah es nicht so aus, als würde dem Mann eine kurze Ruhepause helfen.
Sandeman schloss den Schrank wieder und trat mit der Decke zu dem Mann.
»Zieh die nassen Sachen aus«, wies er ihn an. »Und wickel das um dich. Das wird dich wärmen.«
Der Mann sah zu Charlotte herüber.
»Sie dreht sich um«, versprach Sandeman. Er sagte es so laut, dass sie es hören konnte. Gehorsam drehte sie sich mit dem Stuhl in die entgegengesetzte Richtung. Zwar hörte sie nicht, wie der Mann aufstand, wohl aber das Rascheln von Kleidungsstücken und das leise Geräusch, mit dem sie zu Boden sanken.
»Ich geb dir heiße Suppe und Brot«, fuhr Sandeman fort. »Das beruhigt deinen Magen.« Er versuchte gar nicht, den Mann zu ermahnen, dass er mit dem Trinken aufhören sollte, weil ihn der Alkohol vergiftete. Vermutlich war all das bereits gesagt worden, ohne dass es etwas genützt hätte. »Ich wasch deine Sachen aus. Du musst hier warten, bis sie trocken sind.« Charlotte hörte, wie Sandeman näher kam. »Sie können sich wieder umdrehen«, sagte er ruhig. »Ich habe leider etwas zu tun, kann aber dabei mit Ihnen reden.«
»Vielleicht kann ich das Brot und die Suppe holen?«, bot sie an. Der Gestank, der den Kleidern entstieg, drehte ihr den Magen um, doch bemühte sie sich, das nicht zu zeigen.
»Danke«, sagte er. »Da hinten ist die Küche.« Er wies auf eine Tür links vom Kamin. »Wir können miteinander reden, während ich das hier auswasche. Dabei kann uns niemand hören.« Er nahm die Kleider wieder auf und ging damit voran in einen kleinen Raum mit Steinfußboden, in dem auf einem Herd zwei Teekessel
standen sowie ein großer Topf, in dem eine Suppe vor sich hin köchelte. Außerdem standen mehrere alte Töpfe mit heißem Wasser darauf, vermutlich, damit man jederzeit Kleidungsstücke waschen konnte. Eine Zinkbadewanne auf einem niedrigen Tisch diente als Waschbecken, und auf dem Boden standen einige Eimer mit kaltem Wasser, das von der nächstgelegenen Pumpe stammen dürfte, die vermutlich eine oder zwei Straßen weiter lag.
Charlotte fand das Brot und das Messer und schnitt zwei ziemlich dicke Scheiben ab. Es ließ sich gut schneiden, weil es altbacken war. Sie sah sich nach Aufstrich um, fand aber keine Butter. Vielleicht konnte der Mann es zusammen mit der Suppe trocken essen. Alles, was den Alkohol wenigstens zum Teil aufnahm, würde ihm gut tun. Als sie den Deckel von dem großen Topf hob, sah sie eine dicke Erbsensuppe, an deren Oberfläche von Zeit zu Zeit Blasen platzten. Auf einer Bank standen Schüsseln. Sie nahm eine und füllte sie mit dem Schöpflöffel.
Den Brotteller in der einen und die Suppenschüssel samt einem Löffel in der anderen Hand, um die sie zum Schutz gegen die Hitze ein Tuch gewickelt hatte, kehrte sie in den Saal zurück. Sie trat zu dem Mann, und er hob den Blick zu ihr auf. Sein Gesicht zeigte ihr, dass er aufstehen wollte: Anerzogene Gewohnheiten hatten ein zähes Leben. Offensichtlich war er Soldat gewesen, bevor ihn welche Art von Qual oder Verzweiflung auch immer zerstört hatte. Das Bewusstsein, dass er lediglich eine Decke um den Leib gewickelt trug und nicht sicher war, ob er sie fest genug halten konnte, mochte der Grund sein, warum er es vorzog, nicht aufzustehen. Dieser fremden Frau seine seelische Blöße zu zeigen war schon schlimm genug.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte sie rasch, als hätte er sich bereits halb erhoben. »Sie müssen die Schüssel mit beiden Händen halten, aber passen Sie auf – sie ist sehr heiß.«
»Danke, Ma’am«, murmelte er, nahm ihr die Suppenschüssel mit unsicheren Fingern aus der Hand und stellte sie gleich auf die von der Decke geschützten Knie. Offenbar war ihm klar, dass er sie mit den Händen nicht lange würde halten können.
Sie lächelte ihm zu. Zuerst glaubte sie, er habe es nicht gemerkt, dann ging ihr auf, dass ihm ihre Gegenwart möglicherweise peinlich war. Sie wandte sich ab und kehrte in die Küche zurück.
Über die Zinkbadewanne gebeugt, wusch Sandeman die Kleidungsstücke aus. Dazu benutzte er eine aus Pottasche, Lauge und Karbol hergestellte grobe Seife, die zwar nicht gut für die Haut war, aber den schlimmsten Schmutz und zweifellos auch die mit ihm vermengten Läuse, den Geruch und die Krankheitserreger beseitigen würde.
»Mr Sandeman«, setzte Charlotte an. »Ich muss wirklich mit Ihnen sprechen. Es kann sein, dass dieser junge Mann, der verschwunden
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