Die Frau aus Alexandria
ist, in Gefahr schwebt. Jemand hat uns gesagt, dass er nach Ihnen gesucht hat. Falls er hier war, hat er möglicherweise etwas gesagt, was mir einen Hinweis darauf liefern könnte, wohin er gegangen ist und warum.«
Er sah sie von der Seite her an, die mageren Arme auf den Rand der Wanne gestützt. Diese Art zu waschen war Knochenarbeit. »Wie heißt er?«, fragte er.
»Martin Garvie.«
Kaum hatte sie den Namen gesagt, als er sichtbar erstarrte. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und kehrte gleich darauf zurück, als wäre ihm das Blut rasch wieder in den Kopf gestiegen.
Angst umklammerte ihr Herz. Ihre Lippen waren so reglos, dass es ihr kaum gelang, Worte zu bilden. »Was ist mit ihm geschehen?« , fragte sie ängstlich.
»Ich weiß es nicht.« Ganz langsam richtete er sich auf. Ohne weiter auf die nassen Kleidungsstücke zu achten, die in die Wanne zurücksanken, sah er sie an. »Ich bedaure, aber ich kann Ihnen nichts sagen, was Ihnen weiterhilft. Wirklich nichts.« Er atmete schwer, als würde seine Brust zusammengepresst, sodass er heftig nach Luft ringen musste.
»Er schwebt unter Umständen in großer Gefahr, Mr Sandeman«, sagte sie rasch. »Er ist verschwunden! Seit drei Wochen hat ihn niemand gesehen oder etwas von ihm gehört! Seine Schwester grämt sich zu Tode. Nicht einmal sein Herr, Mr Stephen Garrick,
scheint an den Ort gereist zu sein, wohin er angeblich wollte. Man hat weder bei der Bahn noch in den Passagierlisten der Kanalfähren eine Spur von ihm gefunden. Wir brauchen jeden Hinweis, der uns hilft zu erfahren, was da geschehen ist.«
Es war unübersehbar, dass Sandeman unter starkem Druck stand. Er atmete stoßweise und zitterte unwillkürlich. Doch als er schließlich seine Stimme wiederfand, lag in ihr nicht die geringste Unentschlossenheit, kein Hinweis darauf, dass er seine Haltung geändert hätte.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, wiederholte er. »Was mir in der Beichte gesagt wird, ist heilig.«
»Auch wenn das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht?«, hielt sie dagegen, im vollen Bewusstsein dessen, dass sie damit nichts erreichen würde. Sie konnte es an seinen Augen ablesen, seinem bleichen Gesicht, den angespannten Kiefer- und Nackenmuskeln.
»Ich kann mein Vertrauen ausschließlich auf Gott setzen«, sagte er so leise, dass sie es kaum hörte. »Alles liegt in Seinen Händen. Was mir Martin Garvie anvertraut hat, muss ich für mich behalten. Ehrlich gesagt, bin ich nicht einmal sicher, dass es Ihnen dabei helfen würde, ihn zu finden, wenn ich Ihnen alles sagen dürfte, was ich weiß.«
»Ist ... ist er noch am Leben?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie holte Luft, um es noch einmal zu versuchen, stieß sie dann aber seufzend aus, als sie die Endgültigkeit in seinen Augen erkannte. Sie sah beiseite, wusste nicht, was sie noch sagen sollte.
»Mrs ...«, setzte er an, ohne fortzufahren, denn er wusste ihren Namen nicht.
»Pitt«, sagte sie. »Charlotte Pitt.«
»Mrs Pitt, zu viele andere Menschen sind davon betroffen. Sofern es ausschließlich mein Geheimnis wäre und es etwas Gutes bewirken würde, wenn ich es Ihnen sagte, sähe das anders aus ... aber genau das ist nicht der Fall. Es ist eine alte Geschichte, an der sich jetzt nichts mehr ändern lässt.«
»Hat sie mit Martin Garvie zu tun?« Sie war verwirrt. »Er hat Ihnen offenbar etwas gesagt ...«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Mrs Pitt. Gehen Sie bitte nach Hause. Sie gehören nicht in diese Gegend, und Sie können hier nichts ausrichten. Es ist nicht auszuschließen, dass Ihnen etwas zustößt. Glauben Sie mir. Obwohl ich in diesem Viertel lebe und es so gut kenne, wie das einem Außenstehenden möglich ist, gehe auch ich nur selten nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus. Kommen Sie jetzt. Ich bringe Sie zur Dudley Street, damit Sie sich nicht verlaufen ...« Seine Stimme klang eindringlich, und in seinen dunklen Augen erkannte sie Besorgnis. Er trocknete sich die Hände an einem Stofffetzen ab und zog seinen Mantel wieder an. »Wissen Sie, wie Sie von der Dudley Street nach Hause kommen?«
»Ja ... danke.« Ihr blieb nichts anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen, wenn sie ihre Würde wahren wollte. Das aber wollte sie, denn sie gestand sich ein, dass ihr wichtig war, was dieser Mann von ihr dachte.
Da Pitt nicht zu Hause war, schien Charlotte die Aussicht nicht verlockend, im Wohnzimmer Feuer zu machen und sich allein dort hinzusetzen, nachdem Daniel und Jemima zu Bett gegangen waren.
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