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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Reparatur ihr nicht besonders gelungen war. Statt einer Jacke trug sie über ihrer schlichten Bluse ein Umschlagtuch, weil das besser zu der Art passte, wie sich die anderen Frauen kleideten, die in diesem Teil der Stadt einkaufen gingen oder arbeiteten. Sie hatte zu wissen geglaubt, was sie erwartete, aber damit, dass so viele Menschen auf
den Gehwegen saßen, sich in Hauseingängen drängten oder mit trübseligem Blick vor einem Haufen Lumpen oder alter Stiefel standen, in der Hoffnung, jemand würde kommen und ihnen etwas davon abkaufen, hatte sie nicht gerechnet. Jeder sah auf den ersten Blick, dass sie nicht dorthin gehörte.
    Die Armut hatte einen ganz eigenen Geruch, der überall in der Luft lag. Wohin sie auch den Fuß setzte, überall stieß sie auf Schmutz. Das wenige saubere Wasser, das den Menschen dort zur Verfügung stand, genügte kaum zum Stillen des Durstes, ganz davon abgesehen, dass sie keine Seife hatten. Wegen des zu geringen Gefälles stand das nach Fäkalien riechende Abwasser in der offenen Rinne mitten auf der Straße und lief kaum ab. Nirgends war es trocken, nirgends warm, und es war offensichtlich, dass es nichts gab, was den Hunger der viel zu dicht aufeinander lebenden Menschen hätte lindern können.
    Mit gesenktem Kopf bahnte sich Charlotte ihren Weg zwischen ihnen, einerseits, um ebenso vom Leben gebeugt auszusehen wie die anderen, aber auch, weil sie ihren Anblick nicht ertragen konnte, sie nicht anzusehen wagte, im vollen Bewusstsein, dass sie bald wieder fortgehen würde, sie hingegen immer dort leben mussten.
    Zögernd fragte sie nach einem Priester, der sich um frühere Soldaten kümmerte. Es kostete sie beträchtliche Überwindung, an Leute heranzutreten und sie anzusprechen. Sofort verriet ihre Stimme sie als Außenseiterin, als Menschen, der nicht dort hingehörte. Es wäre sinnlos gewesen, die Sprechweise der anderen nachzuahmen, denn damit hätten sie sich nicht nur verspottet gefühlt, man hätte sie auch als Heuchlerin betrachtet, noch bevor sie Gelegenheit hatte, eine Frage zu stellen. Mit einer Antwort hätte sie in dem Fall erst gar nicht zu rechnen brauchen.
    So gelang es ihr am ersten Tag lediglich, bestimmte Möglichkeiten auszuschließen. Erst als sie folgenden Tages noch einmal hinging, hatte sie am Nachmittag in der Dudley Street unerwartet Erfolg. Dort lagen gebrauchte Schuhe zuhauf, nicht nur auf den unebenen Steinen des Gehwegs, sondern sogar auf der Fahrbahn. Neben diesem Berg saßen Kinder, um die sich niemand kümmerte.
Manche weinten, andere sahen einfach mit ausdruckslosem Blick den Vorübergehenden zu.
    Ein schlanker Mann von etwa Anfang vierzig bahnte sich mühelos seinen Weg durch das Tohuwabohu; er war ganz offensichtlich daran gewöhnt. Da er barhäuptig ging, sah man, dass seine Haare dringend geschnitten werden mussten. In seinem zerfetzten Mantel wirkte er dort gänzlich unauffällig.
    Er schritt kräftig und zielbewusst aus, und da sie ihn nicht behindern wollte, blieb Charlotte stehen, um ihn vorbeizulassen.
    Zu ihrer Überraschung blieb er inmitten der Schuhhaufen stehen. »Ich habe gehört, dass Sie nach mir gefragt haben.« Er sprach mit einer angenehm klingenden Stimme, die Bildung verriet. »Ich heiße Morgan Sandeman und kümmere mich hier im Viertel um jeden, der mich braucht, ganz besonders aber um ehemalige Soldaten.«
    »Mr Sandeman?«, fragte Charlotte, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Man hätte glauben können, sie sei wirklich verzweifelt auf der Suche nach ihrem verschwundenen Mann und hoffe, dass er ihn kenne.
    »Ja. Womit kann ich Ihnen helfen?«
    Es wäre sinnlos gewesen, ihm etwas vorzumachen, ganz davon abgesehen, dass die Zeit möglicherweise drängte. »Ich suche jemanden, der verschwunden ist. Es ist denkbar, dass er mit Ihnen gesprochen hat, kurz bevor er zum letzten Mal gesehen wurde. Könnten Sie mir ein wenig Ihrer Zeit widmen ... bitte?«
    »Selbstverständlich.« Er machte eine einladende Gebärde. »Wenn Sie mit mir kommen wollen, können wir in mein Arbeitszimmer gehen. Leider habe ich statt einer Kirche nur eine Art Lagerhalle zur Verfügung, die aber ihren Zweck erfüllt.«
    »Gern«, sagte sie ohne das geringste Zögern.
    Wortlos ging er ihr voraus, und sie folgte ihm um eine Ecke und durch eine Gasse, vorüber an den schweigsamen Menschen zu einem winzigen Platz. Den vier oder fünf Stockwerke hohen einander zugeneigten schmalen Häusern sah man auf den ersten Blick an, dass sich lange niemand um sie

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