Die Frau aus Alexandria
unbedingt unrealistisch.«
»Ich kenne die ägyptische Wirtschaftsgeschichte ebenso gut wie Sie!«, fuhr ihn Narraway an. »Der Niedergang der dortigen Baumwollfabrikanten hängt mit der Expansion unter Said Pascha zusammen, hat mit dem Khediven Ismail und damit zu tun, dass die Amerikaner nach dem Ende ihres Bürgerkriegs auch wieder Baumwolle auf den Markt gebracht haben. Das hat dazu beigetragen, dass Ismail im Jahre neunundsiebzig abdanken musste, was uns eine Gelegenheit gab, die Dinge in die Hand zu nehmen. Falls Miss Sachari tatsächlich so gebildet ist, wie Sie sagen, muss sie das besser wissen als wir.«
Darauf hatte Pitt keine Antwort. Sie saßen unübersehbar in einem Morast von Einzelfakten fest, aus denen sich keinerlei zusammenhängende Geschichte ergab. Nach allem aber, was er inzwischen wusste, war Pitt nicht mehr bereit, Impulsivität oder Dummheit als Tathintergründe anzunehmen.
»Gehen Sie der Sache noch einmal gründlich nach«, sagte Narraway leise. Er hatte sich schon halb abgewandt, als wolle er nicht, dass Pitt eine Spur von Hoffnung in seinem Gesicht sah. Mit den Worten: »Melden Sie sich übermorgen um sieben bei mir«, ging er davon.
Pitt trug über Arnold Yeats zusammen, was er konnte, doch ergab sich auch aus diesem Material weder ein neuer Hinweis auf das, was in Ägypten mit Lovat geschehen war, noch eine Spur, die dazu beigetragen hätte, das Geheimnis um seinen Tod zu lüften, noch eine Verbindung zu Ayesha Sachari. Was Morgan Sandeman betraf, so lieferte weder dessen Militärakte noch sein Entschluss, die Uniform an den Nagel zu hängen und Priester zu werden, den geringsten Hinweis auf etwas, das für ihren Fall bedeutsam hätte sein können. Ihm fiel lediglich auf, dass die enge Kameradschaft, die in Alexandria zwischen den vier Männern bestanden hatte, mit ihrer Rückkehr nach England vollständig aufgehört zu haben schien. Allerdings war es möglich, dass sie einander geschrieben hatten, ohne dass Pitt etwas davon wusste.
Als er zwei Tage später am frühen Morgen aufbrach, um sich bei Narraway zu melden, verließ auch Charlotte das Haus. Allerdings
schlug sie die entgegengesetzte Richtung ein. Sie sagte Gracie nicht, wohin sie ging, weil sie vermeiden wollte, dass das Mädchen die Unwahrheit sagen musste, falls Pitt früher als sie selbst zurückkehrte.
Sie nahm den Pferdeomnibus zur Oxford Street und ging von dort zu Fuß weiter. An der Dudley Street zögerte sie kurz. Sie versuchte sich zu erinnern, durch welche Straßen Sandeman sie geführt hatte. Ihr Ziel, das wusste sie, lag in Richtung des kreisrunden Platzes von Seven Dials. Auf gut Glück versuchte sie es mit der Great White Lion Street, von der sie nach links in eine Gasse bog. Im Licht des Vormittags sah alles anders aus als bei ihrem vorigen Besuch, war trostlos und bleich, wie von einer Staubschicht bedeckt. Auch kam ihr alles kleiner vor.
Wie viele Schritte waren es gewesen? Sie ahnte es nicht. War sie zu weit gegangen oder nicht weit genug?
Ein missgestalteter Mann kam auf sie zu. Zwar lag auf seinem Gesicht keine Bosheit, aber irgendetwas in seinem unsicheren Gang ängstigte sie. Sie lief davon und eilte in den nächsten Hauseingang.
Mit einem Mal befand sie sich in einer Art Laden. Neben Haufen von übel riechenden Kleidungsstücken, die am Boden lagen, waren Kartons zu wackeligen Stapeln aufeinander getürmt.
»Entschuldigung«, sagte sie rasch und ging rückwärts hinaus. Als sie sich umdrehte, hätte sie fast eine dicke Frau mit kalkweißem Gesicht umgerannt, die kaum Augenbrauen hatte, was sie sonderbar kahl wirken ließ. »Entschuldigung«, wiederholte sie und schob sich an ihr vorbei nach draußen.
Inzwischen hatte sie jede Orientierung verloren. Langsam ging sie in die Gegenrichtung, wollte es dort an einer anderen Tür probieren. Obwohl es nicht kalt war, zitterte sie. Schon hatte sie die Hand zum Klopfen erhoben, als sie sich entschied, die Tür einfach zu öffnen. Sie merkte, dass die Frau mit dem weißen Gesicht sie beobachtete. So nahe stand sie hinter ihr, dass Charlotte gegen sie gestoßen wäre, wenn sie auch nur einige Schritte nach hinten getan hätte. Sie fühlte sich bedrängt und drückte gegen die Tür. Als
sie sich öffnete, sah sie erleichtert den ihr bekannten Vorraum und dahinter den langen Gang. Mochte der Himmel geben, dass Sandeman da war. Wie sollte sie sonst der Frau hinter ihr entkommen! Sie sagte sich, dass ihre Angst lachhaft war. Wahrscheinlich suchte die
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