Die Frau aus Alexandria
warum haben Sie ihn nicht aufgesucht?«, fragte sie mit einer Schärfe in der Stimme, die sie nicht beabsichtigt hatte. Er schien sich davon nicht getroffen zu fühlen. Dazu war er wohl zu tief in seinen Gedanken versunken.
»Wenn jemand nicht in einem Hauseingang von Seven Dials lebt, sondern am Torrington Square, heißt das noch lange nicht, dass er Ihre Hilfe nicht braucht«, sagte sie anklagend. »Allem Anschein nach hat er sich in seiner eigenen Art von Hölle befunden.«
Er hob den Blick zu ihr. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. »Als ob ich das nicht wüsste!«, gab er zurück. »Aber ich kann ihm nicht helfen. Das Einzige, was ich sagen kann, will er nicht hören!« Sie verstand ihn nicht. »Wenn Sie nichts gegen Alpträume zu tun vermögen, wer dann? Helfen Sie nicht genau damit diesen Männern hier? Warum dann nicht Stephen Garrick?«
Er sagte nichts.
»Worauf beziehen sich seine Alpträume?«, stieß sie nach. Ihr war klar, dass ihn das schmerzen musste, aber sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Hat Martin Ihnen das gesagt? Warum können Sie ihm nicht helfen, damit fertig zu werden?«
»So wie Sie das sagen, könnte man glauben, das wäre ein Kinderspiel. Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden.« Ein Anflug von Zorn wurde in seiner Stimme hörbar. Nach wie vor stand er in unnatürlicher Starre da.
»Dann sagen Sie es mir! Nach Ihren Worten muss ich annehmen, dass er im Begriff steht, wahnsinnig zu werden. Was für ein Priester sind Sie nur, dass Sie ihm weder die Hand reichen noch mir helfen wollen, wenn ich das tun möchte?«
Diesmal lag auf seinem Gesicht der Ausdruck von Ohnmacht und blanker Wut.
»Was könnten Sie denn gegen den Wahnsinn unternehmen, Mrs Pitt? Sind Sie fähig, den Träumen von Blut und Feuer Einhalt zu gebieten, die in der Nacht kommen, die Schreie verstummen zu lassen, die den Verstand in Stücke reißen und den Menschen auch noch tagsüber quälen, wenn er wach ist?« Er zitterte am ganzen Leibe. »Mit welchem Mittel können Sie die Gluthitze lindern, die einem die Haut zu versengen scheint, und wenn man dann die Augen öffnet, merkt man, dass man in kalten Schweiß gebadet ist und vom Fieber geschüttelt wird. All das spielt sich im Inneren ab, Mrs Pitt! Da kann niemand helfen. Martin Garvie, der es versucht hat, ist mit in diesen Teufelskreis hineingezogen worden. Als er zu mir kam, sorgte er sich um Garrick, aber er hätte auch Angst um sich selbst haben sollen. Der Wahnsinn frisst nicht nur die Menschen auf, die er befällt, sondern auch jene, die mit ihnen in Berührung kommen.«
»Soll das heißen, dass Stephen Garrick geisteskrank ist?«, fragte sie. »Warum lassen ihn seine Angehörigen dann nicht behandeln? Schämen sie sich so sehr, dass sie nicht bereit sind, einzugestehen, was ihm fehlt?« Endlich schien die Sache einen Sinn zu ergeben. Geisteskrankheit wurde häufig verschwiegen, als handelte es sich dabei um eine Sünde. »Hat man ihn in eine Anstalt gebracht?« Sie hatte die Stimme nicht heben wollen, konnte sich aber nicht mehr beherrschen. »Ist es das? Wen das der Fall sein sollte – warum dann auch Martin? Und warum konnte er nicht zumindest seiner Schwester schreiben und ihr sagen, wo er sich befindet?«
Das Mitgefühl auf Sandemans Zügen war so peinigend, dass es ihn zu verwunden schien. Es kam ihr vor, als werde er noch lange darunter leiden müssen, nachdem er ihr klar zu machen versucht hatte, worum es ging. »Aus Bedlam?«, fragte er.
Bei dem Wort Bedlam lief ihr ein Schauer über den Rücken. Jedermann wusste, was es mit diesem Irrenhaus auf sich hatte, in dem es zuging wie in der Hölle. Der bloße Name, eine im Volksmund entstandene Kurzform von ›Bethlehem‹, war eine Lästerung, war doch dieser Ort die heiligste Stätte der Christenheit, der Hort der Träume. In dies Alptraum-Gefängnis sperrte man von ihren eigenen Heimsuchungen gefolterte Menschen, die laut schreiend dem Unsichtbaren zu entfliehen versuchten.
Es kostete sie Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. »Und das haben Sie zugelassen?«, flüsterte sie. Sie meinte das nicht als Anklage, zumindest nicht ausschließlich. Sie hatte Sandeman bewundert, in ihm ein so tiefes Mitgefühl erkannt, dass sie sich jetzt nicht vorzustellen vermochte, wie er so etwas hinnehmen konnte. Die achtungsvolle Art, mit der er den Betrunkenen bei ihrem ersten Besuch behandelt hatte, war nicht vorgetäuscht, sondern Wirklichkeit gewesen.
Er sah sie an, gleichermaßen von ihrer Einschätzung
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