Die Frau aus Alexandria
deutlicher werden?«
»Nein, nein, Sir. Ich ...«, stammelte der Wärter. Er wandte sich rasch um, schlurfte durch den Vorraum und bog dann in den ersten breiten Gang zur Rechten ein. Narraway und Pitt folgten ihm auf dem Fuße.
Pitts Mund war wie ausgedörrt, und er musste immer wieder schlucken, während sie durch leere Gänge mit fensterlosen Wänden schritten. Zu beiden Seiten waren alle Türen verschlossen. Er hörte unterdrücktes Stöhnen und lautes Gelächter, das sich immer mehr steigerte, bis es in einem irren Kreischen endete. Er wollte diese Eindrücke aus seinem Kopf vertreiben, brachte es aber nicht fertig.
Schließlich erreichten sie das Ende des Gebäudeflügels. Während der Mann nach den Schlüsseln an seinem Gürtel tastete, schien er zu zögern und blickte sich nervös nach Narraway um.
Dieser sah ihn eisig an, worauf der Mann mit dem Schlüssel ungeschickt an der Tür hantierte. Pitt spürte Narraways Ungeduld fast körperlich. Er wäre nicht im Geringsten erstaunt gewesen, wenn er dem Wärter den Schlüssel entrissen hätte.
Endlich gelang es diesem, die Tür aufzuschließen. Pitt hatte mehr oder weniger damit gerechnet, Schreie zu hören, und sich innerlich darauf eingestellt, dass ein Irrer an ihm vorbei das Freie zu gewinnen versuchte. Doch als sich die Tür öffnete, sah er lediglich zwei Strohsäcke am Boden. Auf dem einen hockte eine Gestalt, deren Gesicht in einer grauen Wolldecke verborgen war, aus der die Haare wirr hervorstanden.
Auf dem anderen Strohsack setzte sich ein Mann langsam auf und sah sie mit Augen an, in denen Angst und eine Art Verzweiflung lag, als erhoffe er sich vom Leben nichts mehr außer Qualen. Er wirkte durchaus wie jemand, der sich im Vollbesitz seiner Verstandeskräfte befindet.
»Wie heißen Sie?«, fragte Narraway und trat halb vor den Wärter, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf das Strohlager zuging. Seine Stimme klang fest, aber nicht schroff. Es war lediglich eine Aufforderung, ihm zu antworten.
»Martin Garvie«, sagte der Mann mit belegter Stimme. Seine Augen flehten, man möge ihm glauben, und die Angst, die darin lag, schnitt Pitt wie ein Messer in die Seele.
Mit maskenhaft starrer Miene holte Narraway tief Luft. Als er erneut sprach, zitterte seine Stimme leicht. »Und vermutlich ist das Ihr Herr, Stephen Garrick?« Damit wies er auf das elende Geschöpf, das nach wie vor auf dem anderen Strohsack kauerte.
Garvie nickte und sagte sogleich in bittendem Ton: »Tun Sie ihm nichts, Sir. Er meint es nicht böse. Er kann nicht anders. Er ist krank! Bitte ...«
»Ich habe nicht die Absicht, ihm etwas anzutun«, sagte Narraway und schluckte, als bekomme er nicht genug Luft. »Ich bin gekommen, um Sie beide an einen besseren Ort zu bringen ... wo Sie in größerer Sicherheit sind.«
»Das geht nicht, Sir!«, begehrte der Wärter auf. »Ich riskiere meine Stelle, wenn ich –«
Narraway fuhr herum. »Wenn Sie sich mir in den Weg stellen, riskieren Sie Ihren Hals!«, fuhr er ihn an. »Falls Sie darauf bestehen, kann ich gern warten, bis die Polizei hier ist, aber ich verspreche Ihnen, dass es Ihnen Leid tun wird, wenn Sie mich dazu zwingen. Stehen Sie nicht herum wie ein Holzklotz, sonst sperrt man Sie hier auch noch ein!«
Möglicherweise unter dem Eindruck der letzten Drohung begann der Mann vor Angst zu beben. »Nein, Sir! Ich schwöre, ich bin ein gesetzestreuer Bürger! Ich –«
»Schon gut«, schnitt ihm Narraway das Wort ab. Dann wandte er sich an Pitt. »Heben Sie ihn auf und helfen Sie ihm hinaus.« Er wies auf Garrick, der sich nicht geregt hatte, als sei die ganze Szene nicht bis in sein Bewusstsein gedrungen.
Pitt erinnerte sich an Narraways Aufforderung, ihm in allem zu gehorchen, und trat an das Lager. »Lassen Sie mich Ihnen aufhelfen, Sir«, sagte er freundlich und bemühte sich, wie ein Dienstbote zu sprechen, eine vertraute Gestalt, von der keinerlei Gefahr ausgeht. »Sie müssen aufstehen«, drängte er, schob dem Mann die Hände unter die Achseln und versuchte die völlig leblose und entsprechend schwere Gestalt emporzuheben. »Kommen Sie, Sir«, wiederholte er und zog mit aller Kraft.
Der Mann stöhnte, als leide er entsetzliche Qualen, und Pitt hielt inne.
Im nächsten Augenblick war Garvie neben ihm und beugte sich über seinen Herrn. »Er will Ihnen helfen, Sir«, sagte er eindringlich. »Er bringt uns an einen besseren Ort. Kommen Sie, rasch! Sie müssen aufstehen! Wir sind dann in Sicherheit!«
Garrick
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