Die Frau aus Alexandria
Vernünftiges aus ihm herausbringen können.« Er sah auf das Glas in Pitts Hand.
Dieser war nicht bereit, einen so guten Tropfen stehen zu lassen. Zwar war es schade, den Bordeaux nicht zu genießen, aber dazu blieb jetzt keine Zeit mehr. Also leerte er das Glas und stellte es auf den Tisch.
An der Haustür schluckte Narraway das letzte Stück Brot herunter und nahm seinen Mantel vom Haken.
Mit großen Schritten eilten sie zum Ende der Straße und hielten dort eine Droschke an. Narraway warf dem Kutscher nur ein Wort zu: Bedlam.
Die Droschke fuhr an. Keiner der beiden Männer sagte etwas. An Ort und Stelle würde sich die Antwort auf die Frage, auf welche Weise sie Garrick aus der Anstalt herausholen wollten, von selbst ergeben.
Die Fahrt war ziemlich lang. Erst als sie über die Brücke von Westminster fuhren, von der aus man sehen konnte, wie der Schein der Straßenlaternen entlang der Uferstraße den Nebelschleier durchbrach und sich im Wasser der Themse spiegelte, brach Narraway das Schweigen.
»Befolgen Sie alles, was ich sage, und halten Sie sich bereit, notfalls rasch zu handeln«, wies er Pitt an. »Weichen Sie mir nicht von der Seite. Wir müssen unbedingt darauf achten, dass man uns nicht trennt. Unternehmen Sie auf keinen Fall spontan etwas, ganz gleich, was geschieht. Und lassen Sie sich nicht von Ihren Empfindungen beeinflussen, wie menschlich oder lobenswert auch immer sie sein mögen.«
»Ich war schon früher einmal in Bedlam«, gab Pitt knapp zurück. Bewusst unterdrückte er jede Erinnerung daran.
Als sie das jenseitige Ende der Brücke erreichten und die Droschke am Südufer der Themse die kleine Anhöhe emporfuhr, vorüber an der Eisenbahnlinie, die zum Waterloo-Bahnhof führte, warf Narraway einen Blick auf Pitt. An der Christuskirche bogen sie nach rechts ab in die Kennington Road, wo sich der gewaltige
Komplex der Bethlehem-Irrenanstalten vor dem Nachthimmel abzeichnete.
Die Droschke hielt. Narraway forderte den Kutscher auf zu warten. Mit den Worten: »Sie bekommen den gleichen Betrag noch einmal, wenn Sie hier sind, sobald ich Sie brauche«, gab er ihm einen Sovereign, eine Goldmünze im Wert von einem Pfund. Finster fügte er hinzu: »Sollten Sie nicht hier sein, sorge ich dafür, dass Sie Ihre Lizenz verlieren. Warten Sie so lange, wie es nötig ist. Es kann rasch gehen, es kann aber auch mehrere Stunden dauern. Falls ich bis Mitternacht nicht zurück bin, gehen Sie mit dieser Karte zur nächsten Polizeiwache und holen ein halbes Dutzend uniformierte Beamte.« Er gab dem Mann, der jetzt mit großen Augen und erkennbar beunruhigt dasaß, seine Karte.
Dann überquerte er den Gehweg und schritt, von Pitt dicht gefolgt, die Stufen zum Haupteingang empor. Sogleich stellte sich ihnen ein Wachmann höflich, aber entschlossen in den Weg. Narraway teilte ihm mit, er handele im Auftrag der Regierung. Es gehe um die Sicherheit des Landes und er sei im Besitz einer Vollmacht der Königin, seine Aufgabe an jedem beliebigen Ort zu erfüllen. Einer der Insassen der Anstalt verfüge über dringend benötigte Informationen und er müsse unverzüglich mit ihm sprechen.
Pitt wurde bei der Vorstellung schwindlig, wie groß das Risiko war, das sie da auf sich nahmen. Er hatte als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Charlotte Recht hatte und Garrick sich hier befand. Sofern sie sich irrte und er in einer anderen Anstalt untergebracht war – beispielsweise in Spitalfields oder einer privaten Einrichtung –, würde ihm Narraway das nie verzeihen. Verblüfft ging ihm auf, dass er ihm geradezu blind vertraut hatte, und noch mehr wunderte ihn das, als ihm klar wurde, dass er letzten Endes auf Charlottes Angaben hin handelte.
»Ja, Sir. Und um wen handelt es sich?«, fragte der Mann. »Um einen jungen Herrn, der in der ersten Septemberwoche am frühen Morgen mit seinem Kammerdiener hier eingetroffen ist. Möglicherweise leidet er unter Delirien, Alpträumen und den
Nachwirkungen von Opium. Sie können zu diesem Zeitpunkt keinesfalls mehr als einen solchen Fall aufgenommen haben.«
»Kennen Sie seinen Namen denn nicht, Sir?«, erkundigte sich der Mann mit finsterer Miene.
»Selbstverständlich kenne ich den«, blaffte ihn Narraway an. »Aber woher soll ich wissen, unter welchem Namen man ihn hergebracht hat? Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Mann! Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass ich im Auftrag Ihrer Majestät in vertraulichen Staatsangelegenheiten hier bin. Muss ich noch
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