Die Frau aus Alexandria
zu trinken und eine Substanz zu rauchen, die Empfindungen und Wahrnehmungen verzerrte?
Oder hatten die jungen Männer in Ägypten etwas erlebt, was schicksalhaft in ihr weiteres Leben eingegriffen hatte? Yeats war durch seine tollkühne Verwegenheit ums Leben gekommen, Sandeman hatte sich bei Seven Dials in eine Art Exil zurückgezogen, und Lovat war einem Mord zum Opfer gefallen. Hatte Ferdinand
Garrick seinen einzigen Sohn nach Bedlam geschickt, um ihn zu schützen? Aber wer trachtete ihm nach dem Leben? Etwa die Ägypterin? Sofern das der Fall war – warum nur, um alles in der Welt?
Auch wenn ihm dieser Gedanke in keiner Weise behagte, konnte er ihn nicht länger von sich weisen. Man musste sich den Fakten stellen, wie sie waren.
An seinem Ziel angekommen, stieg er aus, entlohnte den Kutscher und eilte durch den leichten Nebel, der in Fetzen umherwirbelte, über den nassen Gehweg. Seine Schritte riefen kein Echo hervor, alles klang gedämpft. An der Tür betätigte er den als Löwenkopf gestalteten Klopfer.
Ein grauhaariger Diener öffnete und trat, nachdem er ihn begrüßt hatte, beiseite, um ihn einzulassen. Weder brauchte er zu fragen, was Pitt wollte, noch, ob es dringend sei, denn die Antwort auf beide Fragen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Diener ging voraus durch das Vestibül, klopfte kurz an die Tür des Arbeitszimmers und öffnete.
»Mr Pitt, Sir«, kündigte er den Besucher an.
Narraway saß in einem Lehnsessel und hatte seine in Hausschuhen steckenden Füße auf einen Hocker gelegt. Auf einem Tischchen neben ihm stand ein Teller mit belegten Broten und ein Kristallglas mit Rotwein.
»Ich hoffe in Ihrem ureigenen Interesse, dass Sie nicht mit leeren Händen kommen!«, sagte er mit vollem Mund.
Der Diener zog sich zurück und schloss die Tür.
Pitt rückte sich den anderen Sessel zurecht und nahm Narraway gegenüber Platz.
Mit leisem Seufzen wies dieser auf eine Flasche Bordeaux, die auf der Anrichte stand. »Bedienen Sie sich. Gläser stehen im Schrank.«
Pitt stand auf, und während er den dunklen Wein eingoss, sah er zu, wie sich das Licht auf dessen Oberfläche und auf dem Glas spiegelte.
»Meine Frau hat herausbekommen, wo sich Martin Garvie und Stephen Garrick aufhalten«, sagte er.
Narraway bekam einen Hustenanfall. Offenbar hatte er sich verschluckt. Er beugte sich vor und griff nach dem Weinglas.
Zufrieden lächelte Pitt vor sich hin. Genau so hatte er sich das vorgestellt.
Mit einem Räuspern lehnte sich Narraway wieder zurück. »Tatsächlich?« , fragte er mit etwas weniger bissiger Stimme, als wenn er das Brot nicht in den falschen Hals bekommen hätte. »Es kommt mir ganz so vor, als wären Sie nicht Manns genug, Ihre Frau zu zügeln! Werden Sie mir sagen, wo die beiden sind, oder muss ich das erraten?«
Mit einem Glas in der Hand kehrte Pitt an seinen Platz zurück. Erst als er wieder saß, gab er Narraway Antwort. Ohne auf den Vorwurf einzugehen, den er erhoben hatte, sagte er: »Sie war noch einmal bei Sandeman.« Er schlug die Beine bequem übereinander und nippte an dem Wein. Er war ausgezeichnet, allerdings hatte er von Narraway auch nichts anderes erwartet. »Sie hat ihn dazu gebracht, ihr zumindest einen Teil der Wahrheit mitzuteilen. Garvie hat ihm anvertraut, dass es Garrick ausgesprochen schlecht geht. Er deliriert und leidet unter entsetzlichen Alpträumen. Sandeman ist so gut wie sicher, dass man ihn und seinen Kammerdiener nach Bedlam gebracht hat.« Ohne auf das Entsetzen in Narraways Gesicht zu achten, fuhr er fort: »Da Garvie ganz offensichtlich keine Möglichkeit hatte, seine Angehörigen zu benachrichtigen, muss man annehmen, dass er sich unter Umständen unfreiwillig dort aufhält. Das passt zu allen uns bekannten Tatsachen. Die Frage ist nur, ob Garricks Alpträume auf seinen Opiummissbrauch zurückgehen, auf eine Geisteskrankheit oder, was sehr viel schwerer wiegen würde, auf etwas, was während seiner Dienstzeit in Ägypten vorgefallen ist. Und –«
»Schon gut, Pitt!«, sagte Narraway scharf. »Sie können sich die Einzelheiten sparen.« Er erhob sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung, das angebissene Brot noch in der Hand. »Yeats ist tot, Lovat ermordet, Sandeman in der Gegend von Seven Dials untergetaucht, und jetzt sieht es ganz so aus, als ob Garrick im Irrenhaus wäre, von Alpträumen gemartert, die ihn um den Verstand
gebracht haben.« Er nahm sein Glas und leerte es. »Wir sollten hingehen und feststellen, ob wir etwas
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