Die Frau aus Alexandria
öffentlichen Verkehrsmitteln weitergereist.«
Er stand bewegungslos da und grübelte mit gefurchter Stirn über ihre Worte nach. Sofern er die Absicht hatte, ihr wegen ihres erneuten Besuchs in der Gegend von Seven Dials Vorhaltungen zu machen, würde er damit sicherlich bis lange nach Abschluss dieses Falles warten.
»Können wir ihn da herausholen?«, fragte sie leise. »Zumindest Martin gehört nicht dorthin. Wir dürfen zwar annehmen, dass er Garrick helfen wollte, aber wenn er freiwillig mitgegangen wäre, hätte er das bestimmt vorher seiner Schwester mitgeteilt. Das aber hat er nicht getan, und das beweist, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.«
»Du hast Recht«, sagte er, nach wie vor tief in Gedanken versunken. »Aber wir müssen vorsichtig sein. Augenscheinlich hatte jemand die Macht, den jungen Garrick dorthin zu bringen. Das kann nur sein Vater gewesen sein.«
»Das gibt ihm aber doch kein Recht, Martin ebenfalls dorthin zu schicken«, begehrte sie auf. »Selbst wenn das bei einem Dienstboten juristisch unbedenklich sein sollte, lässt sich das moralisch ...«
»Ich weiß«, fiel er ihr ins Wort. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein.«
»Sag Mr Narraway, dass er das in die Wege leiten soll«, drängte sie. »Zumindest soll er Stephen Garrick aufsuchen. Ihr braucht ihn doch, weil er mit Lovat in Alexandria war. Jetzt, da auch Yeats tot ist ...« Sie verstummte. Ein entsetzlicher Verdacht war ihr gekommen, und sie sah seinem Gesicht an, dass er etwas Ähnliches dachte. »Glaubst du, dass ihn sein Vater deshalb da untergebracht hat?«, flüsterte sie. »Um ihn zu schützen? Ist jemand aus Ägypten hinter all diesen Männern her? Ist entsetzliche Angst der eigentliche Grund für seine Alpträume?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er mit unglücklich klingender Stimme. »Aber man kann das nicht ausschließen.«
»Du glaubst doch bestimmt nicht, dass sie es getan hat?«, fragte sie.
»Nein ... nein – auch wenn alle Anzeichen immer mehr in diese Richtung deuten. Ich habe gehört, wie die Verhandlung heute abgelaufen ist.« Auf sein Gesicht legte sich ein Ausdruck von Abscheu. »Ich weiß nicht, ob das Ryersons Wünschen entspricht, aber seine Verteidigung tut alles, was in ihren Kräften steht, um Lovat in einem denkbar ungünstigen Licht erscheinen zu lassen.
Vermutlich will man damit den Eindruck erwecken, dass es gute Gründe für eine mögliche Täterschaft Dritter gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viel Gutes dabei herauskommt. Miss Sachari war in Eden Lodge. Wenn jemand die Absicht hatte, Lovat aus persönlicher Rache zu töten, würde er ihm wohl kaum um drei Uhr nachts in den Garten fremder Menschen folgen.«
Charlotte begriff, dass er mit diesen Worten gewissermaßen eine Niederlage eingestand. Seiner Ansicht nach war weder Ryerson noch die Frau schuldig. Er hatte jede theoretische Möglichkeit erwogen, die zu einer anderen Lösung führen konnte, aber schließlich einsehen müssen, dass es sinnlos war, sich weiterhin etwas vorzumachen.
»Das tut mir Leid«, sagte sie leise und legte sacht ihre Hand auf die seine. »Aber zumindest sollten wir Martin Garvie retten, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Ich gehe sofort zu Narraway. Ich danke dir für das, was du erreicht hast.« Mit einem trübseligen Lächeln nahm er ihre Hand und hielt sie zärtlich. »Über deinen Besuch in der Gegend von Seven Dials sprechen wir später.« Er küsste sie zärtlich, bevor er sich zum Gehen wandte.
KAPITEL 11
A ls Pitt das Haus verließ, überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. In Bedlam! Sofern Ferdinand Garrick seinen Sohn Stephen tatsächlich in diese Irrenanstalt hatte einweisen lassen, deren bloßer Name bei jedem, der ihn hörte, Schrecken hervorrief, musste er dafür einen sehr triftigen Grund gehabt haben. War der junge Garrick etwa geisteskrank? In seiner Personalakte beim Militär hatte sich kein Hinweis darauf gefunden. Ganz im Gegenteil waren ihm darin neben Mut und körperlicher Tüchtigkeit auch Initiative und geistige Beweglichkeit bescheinigt worden. Er war von den vier jungen Offizieren möglicherweise der vielversprechendste gewesen.
Mit großen Schritten strebte Pitt der Tottenham Court Road entgegen. Dort winkte er einer Droschke, stieg ein und nannte dem Kutscher Narraways Anschrift.
Sofern Garrick geistesgestört war, musste man sich fragen, was der Grund dafür sein konnte. Etwa der Alkohol- und Opiummissbrauch? Warum aber hatte er angefangen, im Übermaß
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