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Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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beschneiden? Es müssen ein paar Veredelungen vorgenommen werden. Mir würden drei Tage genügen, heute, morgen, also Freitag, und Samstagvormittag.»
    «In Ordnung.»
    Doch auf dem Weg nach Hause dachte Gnazio, dass er eigentlich einen Fehler gemacht hätte. Sollte Samstagvormittag nicht Maruzza mit der Urgroßmutter kommen? Sein Kopf war völlig durcheinander, das war die schlichte Wahrheit. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Aulissi weit vom Haus entfernt arbeiten und den Besuch wahrscheinlich nicht einmal bemerken würde.
    Samstagvormittag gegen elf Uhr brachte er den kleinen Tisch aus dem Schlafzimmer herunter, nahm die beiden zierlichen und die beiden Küchenstühle und brachte alles unter den Olivenbaum. Auf das Tischchen stellte er vier Gläser und einen Teller mit Kirschen und Aprikosen. Den Weinkrug ließ er noch in der mit frischem Wasser gefüllten
giarra
.
    Als Erste tauchte Donna Pina mit ihrem üblichen Sack über der Schulter auf.
    Sie blieb am Wegesrand stehen, schaute sich um, sah das gedeckte Tischchen, gab zu verstehen, dass alles in Ordnung sei, und fragte:
    «Habt Ihr Minica gesehen?»
    «Nein. War sie denn nicht bei Euch?»
    «War sie. Aber dann sagte sie, wir würden zu langsam gehen, und lief voraus.»
    «Hier ist sie nicht angekommen.»
    Donna Pina verschwand.
    Ach, du gebenedeite Madonna, das fehlte noch! Wo war sie nur hingegangen, diese dumme Alte? Jetzt konnte es sein, dass sie den Vormittag damit verbringen mussten, sie zu suchen! Sie konnte ja auch in irgendeinen Graben gestürzt sein! Möglich auch …
    Er drehte sich um, den Wein zu holen, und fand sich einem steinalten Mütterchen gegenüber. Das musste sie sein, die Urgroßmutter, ganz sicher! Aber woher kam sie bloß? Welchen Weg hatte sie genommen? Sie war ein spindeldürres altes Weib, wohl gerade mal einen Meter und dreißig Zentimeter groß, und lachte ihn aus ihrem zahnlosen Mund an. Sie hatte ein dichtes Bärtchen und Augen wie zwei glühende Kohlen in einem Gesicht, das runzelig und gelb war wie eine Zitrone. Ihr Kopf war von einer schwarzen Stola bedeckt, die ihr bis zu den Füßen reichte. Und diese Füße waren nackt. Vom vielen Laufen ohne Schuhe hatten ihre Zehen die gleiche Farbe wie Baumzweige angenommen.
    «Bongiorno
. Ich bin …», setzte Gnazio an, der noch immer völlig überrascht war.
    «Ich weiß, wer Ihr seid.»
    Die Stimme der Alten brachte ihn gänzlich durcheinander, denn sie hatte nicht die Stimme einer alten Frau, sondern die eines Kindes, genauer gesagt, die einer jungen Frau, warm und weich.
    «Welchen Weg habt Ihr genommen?»
    «Ich habe einen großen Bogen gemacht, ich komme vom Meer.»
    Sie lachte. Sie lachte wie eine Taube, die ihren Tauber ruft, um gedeckt zu werden.
    «Ich habe Ulisse gesehen.»
    «Ihr kennt ihn?»
    «Ich ihn wohl. Aber er mich nicht. Er ist immer noch derselbe, er hat sich kein bisschen verändert. Auch er war immer einer vom Meer, und jetzt versorgt er Eure Bäume.»
    Was redete sie denn da für dummes Zeug? Sie sprach entschieden zu viel. Wie die Alten das eben tun. Oder sie verwechselte Aulissi mit jemand anderem.
    Aulissi war ein alter Mann, so wie er selbst, möglicherweise war er noch nie auf einem Boot gewesen.
    «Seid Ihr sicher, dass er derselbe ist, der …»
    «Völlig sicher!»
    Die Alte war verrückt, das war so gewiss wie der Tod. Das Beste war, so zu tun, als wäre nichts, und das Thema zu wechseln.
    «Wollt Ihr Euch setzen?»
    «Ich bin nicht müde», sagte Minica und betrachtete den Olivenbaum, als hätte sie noch nie einen derartigen Baum gesehen.
    «Da sind wir!»
    Das war Donna Pina, die da gesprochen hatte. Er drehte sich blitzschnell um. An ihrer Seite Maruzza. Maruzza, die ihm zulächelte.
    Da geschah etwas Merkwürdiges mit ihm. Sein Blick- feld verengte sich und ließ alles verschwinden, was sich in Maruzzas unmittelbarer Umgebung befand, zuallererst Donna Pina, dann den Himmel, die Steine, die Hirsebüschel, alles löste sich auf, wurde schwarz, lediglich ein Viereck starken Lichts verblieb, so stark, dass seine Augen geblendet waren, und darin stand Maruzza, die gekleidet war wie auf dem Foto.
    Gleich darauf öffnete sich sein Blick wieder, Donna Pina, der Himmel, die Steine, die Hirsebüschel kehrten wieder an ihren Platz zurück, doch stand alles still, reglos, nichts bewegte sich, so als wäre alles gemalt, wie auf einem Bild.
    «Willkommen!», gelang es ihm zu sagen, und seine Stimme bebte.
    Und es war, als hätte er irgendein

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