Die Frau aus dem Meer
sie in Höhe von Ninfa waren, beschlossen sie, an Land zu gehen, weil sie durch das Fernglas ein sonderbares, von Bomben zerstörtes Haus gesehen hatten, wo sich aber dennoch deutsche Soldaten verborgen halten konnten.
Nachdem sie das Schlauchboot auf den Strand ins Trockene gezogen und den leichter zugänglichen Teil des Hanges erklommen hatten, befanden sie sich auf einem Gebiet, das einmal Gnazio Maniscos Land gewesen war. Sie teilten sich auf, während sie umsichtig und vornübergebeugt vorwärtsgingen. Einer wandte sich nach links, der zweite rückte weiter geradeaus vor, der dritte, der Steven hieß und zweiundzwanzig Jahre alt war, bewegte sich in Richtung eines großen Olivenbaums.
Das erste Geschützfeuer der Deutschen, die auf einem Hügel in der Nähe lagen, streckte sie auf die Erde. Gleich darauf folgten zehn Schüsse nacheinander und ließen keine Pause eintreten. Danach setzten die Maschinengewehre ein. Nach fünf Minuten war es still.
Steven befand sich in einem Graben, er hatte kein Bein mehr, ein großer Geschosssplitter hatte sie glatt abgetrennt. Er wusste, dass seine Kameraden tot waren.
Er war ein mutiger und erfahrener junger Kerl, daher begriff er, dass es für ihn nur noch eine Frage von Zeit war, von wenig Zeit. Er buddelte sich auf dem Grund des Grabens ein, denn unter seinem Rücken befand sich ein Stein, der unangenehm drückte. Doch als er den Boden wegscharrte, schlug plötzlich eine riesige Muschel gegen sein Ohr.
Da hörte er von ferne eine Frauenstimme, die wunderbar sang.
Das kann doch nicht sein!, dachte er. Bin ich jetzt etwa schon verrückt geworden?
Wie ist es möglich, dass in einer Muschel die Stimme einer Frau ertönt? Und nach diesem ersten Lied fing eine andere Frauenstimme an zu singen, aber wesentlich jünger, fast schon mädchenhaft.
Steven verstand die Worte nicht, doch die Melodien verzauberten ihn; sie waren nicht von dieser Erde, es war, als würden sie aus einer unbekannten Welt kommen, die in die Nacht der Zeiten eingedrungen war. Und die Muschel verstärkte die Stimmen wie ein Klangkörper, gleichsam als würde ein Orchester sie begleiten.
Und während er diese Musik hörte, merkte er gar nicht, dass er starb.
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Anmerkung
Ich wollte mir ein altes Märchen neu erzählen. Die Geschichte von dem Bauern, der eine Sirene zur Frau nahm, hatte mir in meiner Kindheit schon Minicu erzählt, der phantasievollste unter den Bauern, die auf dem Land meines Großvaters arbeiteten. Minicu hatte mir des Öfteren ans Herz gelegt, die Augen zu schließen, «um die zauberischen Dinge zu sehen», die nämlich, die man mit geöffneten Augen normalerweise nicht sieht.
Die Geschichte über das Haus, das Walter Gropius inspiriert hat, und alle anderen Geschichten, die sich nach Gnazios Hochzeit zugetragen haben, sind frei erfunden.
A. C.
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Inhalt
Gnazio kehrt nach Vigàta zurück 7
Gnazios Haus 23
Maruzza Musumeci 37
Die Urgroßmutter 51
Die Hochzeit nach Art der Urgroßmutter 67
Maruzza und das Meerwasser 83
Mitteilungen über das Eheleben 99
Vier Geburten, ein Tod und das wachsende Haus 115
Der Besuch des Amerikaners und andere Geschichten 131
Geschlechterfolgen und abschließende Ereignisse 145
Anmerkung 157
Fußnoten
1 * «... und sie stimmten den hellen Gesang an»,
Odyssee
, Zwölfter Gesang, Vers 183, übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart, 1979.
2 «Es mögen ihnen die Götter Segen verleihn im Leben ...»,
Odyssee
, Siebenter Gesang, Vers 148–149, a.a.O.
3 «Unansehnlich ist er zuvor mir erschienen, jetzt aber scheint er den Göttern gleich ...»,
Odyssee
, Sechster Gesang, Vers 242–243, a.a.O.
4 «Könnte ein solcher Mann mir doch mein Gatte genannt sein/Und hier wohnen; gefiele ihm doch, hier immer zu bleiben.»
Odyssee
, Sechster Gesang, Verse 243–244; a.a.O.
Über Andrea Camilleri
Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und
lehrte über zwanzig Jahre lang an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors
die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat Camilleri sich inzwischen auch einen festen
Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und
lebt in Rom.
Über dieses Buch
Maruzza Musumeci
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