Die Frau aus dem Meer
Mädchen, die sich umarmt hielten. Er meinte das Mädchen zu erkennen und reichte Gnazio die Brieftasche.
Gnazio nahm und öffnete sie.
Es war das Foto, das Cola mit Resina am Bahnhof hatte machen lassen, als er nach Palermo fuhr. Wie jung die beiden waren und wie schön!
«Danke», sagte Gnazio.
«Bitte sehr», antwortete der Fischer.
Doch Gnazio hatte nicht ihm gedankt.
Bei Tagesanbruch des fünften Juni neunzehnhundertdreiundvierzig wachte Gnazio auf und hörte, dass er nichts mehr hörte.
Keines von den Geräuschen, die den Morgen von dem Augenblick an begleiteten, da er die Augen aufmachte, gab es mehr. Keine Vögel, die sangen, kein Wind, der in den Bäumen rauschte, und vor allem kein ruhiges, regelmäßiges Atmen von Maruzza mehr, die neben ihm schlief.
Was war nur mit der Welt passiert?
Er stand leise auf, um seine Frau nicht zu stören, stieg langsam die Treppe hinunter, denn an diesem Morgen waren seine Beine ganz wackelig, und der Kopf drehte sich ihm ein wenig. Er öffnete die Haustür und ging hinaus.
Kein Blatt bewegte sich, kein Grashalm. Alles war reglos, gemalt, ganz wie beim ersten Mal, als Maruzza nach Ninfa gekommen war.
Dann sah er seine Tiere, den Esel, das Maultier, die Ziegen, die Hühner, alle ganz still um den Olivenbaum herumstehen und ihn anschauen; sie wirkten alle unecht, keines bewegte sich. Wie hatten sie es nur geschafft, aus dem Stall und aus dem Gehege zu kommen? Und warum sahen sie ihn so an? Was wollten sie von ihm? Da begriff er. Aber er ängstigte sich nicht.
Nicht mit der Welt ging etwas vor sich, sondern mit ihm. Seine Stunde war gekommen.
Wie schade, dachte er, dass er es nicht mehr schaffte, die Treppe noch einmal hinaufzugehen und Maruzza einen letzten Kuss zu geben; er fühlte, dass ihm die Kräfte versagten.
Er gelangte ganz langsam unter den Olivenbaum, setzte sich auf den Stein, legte den Kopf nach hinten, damit er die Blätter des Baumes anschauen konnte, und blieb in dieser Haltung sitzen.
Dann gingen die Tiere ganz langsam wieder ins Gehege und in den Stall zurück. Und auch das Rauschen des Windes und das Gezwitscher der Vögel kehrten wieder, doch das konnte Gnazio nicht mehr hören.
Am selben Morgen weckte ein neuer Bombenangriff auf Vigàta Maruzza aus dem Schlaf. Sie stand auf, und das Erste, was sie sah, als sie aus dem Haus trat, war Gnazio unter dem Olivenbaum. Es war sinnlos, in die Stadt zu fahren und einen Sarg zu kaufen. Auch in Vigàta blieben die Toten im Freien. Es war eine Zeit ohne jede Achtung vor dem Leben noch vor dem Tod. Da hob sie unter der Olive ein Grab aus. Sie grub und sang ein Lied, dessen Worte nun keiner mehr verstehen konnte.
Als sie fertig war, ging sie ins Haus, wusch sich, öffnete den Schrank, nahm die Kleider ihrer Urgroßmutter heraus und legte sie an. Auf den Kopf die Stola, die ihr bis zu den Füßen reichte. Wenn Gnazio sie jetzt hätte sehen können, hätte er sie für Minica gehalten.
Sie nahm zwei Säcke; in den einen steckte sie etwas zu essen, das sie aus der Vorratskammer genommen hatte, in den anderen ein bisschen Futter für den Esel und eine Ziege, die sie mitnahm. Sie ritt nach Vigàta, wo sie für immer im Haus ihrer Urgroßmutter wohnen wollte. In Ninfa hatte sie nun nichts mehr zu tun.
Vorher aber ließ sie alle Tiere frei und verschloss weder die Vorratskammer noch das Haus. Die Menschen litten ungeheuren Hunger, sie sollten sich nehmen, was sie wollten. Auch die Muschel ließ sie zurück.
Am folgenden Tag flogen zwei amerikanische Flugzeuge im Tiefflug über das Haus hinweg, das Gnazio gebaut hatte. Irgendetwas musste sie zu der Ansicht gebracht haben, dass dies ein militärisches Gebäude sei. Sie kehrten um und feuerten sämtliche Bomben ab, die sie bei sich hatten. Das Haus konnten sie nicht zerstören, auch nicht den Olivenbaum, aber sie richteten großen Schaden auf den Feldern an, vernichteten Bäume und öffneten tiefe Krater.
Am folgenden Tag kehrten die beiden Flugzeuge noch einmal zurück, und obwohl von einer deutschen Stellung auf sie gefeuert wurde, zielten sie diesmal genauer. Sie trafen das Haus und zerstörten es völlig.
Bei Tagesanbruch des sechzehnten Juli neunzehnhundertdreiundvierzig fuhr eine Patrouille von drei amerikanischen Soldaten auf einem motorbetriebenen Schlauchboot aus dem Hafen von Vigàta, der tags zuvor eingenommen worden war; sie fuhren dicht an der Küste entlang, um zu sehen, wo sich die feindlichen Stellungen befanden.
Als
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