Die Frau aus dem Meer
leise und rüttelte ihn an der Schulter.
«Was ist?», sagte der Kleine und machte ein Auge auf.
«Steh auf, wasch dich und zieh dich an! Jetzt ist es so weit, dass du mit mir arbeiten kommst.»
Calorio wirkte zufrieden. Und in der Tat zeigte es sich schon seit diesem Morgen, was er immer sein würde, nämlich ein tüchtiger Arbeiter.
Jetzt verstand Gnazio die Worte der Lieder seiner Tochter Resina.
Allerdings sang Resina ganz andere Lieder als die ihrer Mutter, Lieder, die Gnazio beunruhigten.
Zum Beispiel sang sie die Geschichte von zwei Schwertfischen, die in eine Delphinin verliebt waren und immer um sie herumschwammen; sie gaben ihr keine Ruhe, doch die Delphinin konnte sich nicht zwischen ihnen entscheiden, und so forderten die Schwertfische sich zum Duell heraus, bei dem sie sich tödliche Wunden beibrachten; die Delphinin erfuhr durch eine Möwe von diesem Ereignis, doch statt zu weinen, sagte sie fröhlich und zufrieden, dass sie nun endlich frei sei, sich in den zu verlieben, den sie wollte.
Oder sie sang die Geschichte von einem Haifisch, der alle Zähne verloren hatte und daher nicht mehr fressen konnte; doch weil er einen Freund hatte, der Albatros hieß und ein Vogel war, schwamm er, wenn er Hunger hatte, dicht an der Oberfläche, öffnete das Maul, und der Albatros ließ die Fische hineinfallen, die er für ihn gefangen und klein gekaut hatte.
Es waren Geschichten über Liebe und Freundschaft.
Aber was konnte ein kleines Mädchen wie Resina denn von Liebe und Freundschaft wissen?
Zwar bezogen sich Maruzzas Lieder immer auf das Meer, das ist richtig, aber sie sprachen von dem, was ein junges Mädchen empfindet, wenn es sich verliebt, wenn es ein Kind bekommt, wenn jemand stirbt, der ihm nahestand. Resina indes wandte sich nicht ans Meer, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es bei ihr, wenn sie sang, so war, als würde sie
im
Meer sein; sie musste es also auch nicht anrufen, und ihre Geschichten erzählten unvermeidlich von Schwertfischen, von Delphinen oder von Haifischen.
Unterdessen ging das Leben in Ninfa seinen Gang und veränderte die Dinge.
Eines Morgens fragte Gnazio, der Donna Pina seit zwei Wochen nicht mehr auf der Straße hatte vorbeilaufen sehen, einen Alten, ob er wohl etwas über sie wisse. Und der antwortete ihm, dass Donna Pina eine Krankheit in den Beinen bekommen habe und nicht mehr so lange Wege zurücklegen könne. Sie sei aber weiterhin mit Heilmitteln aus Kräutern zugange, nur wer jetzt geheilt werden wolle, müsse zu ihr gehen.
In der Nacht war es Gnazio, als würde er Geräusche im Zimmer der Mädchen hören. Er stand auf, ging nachschauen und merkte, dass Resina nicht in ihrem Bett war. Ciccina hingegen schlief tief und fest. Besorgt suchte er seine Tochter im Esszimmer, aber da war sie nicht. Er ging in das der Jungen und sah, dass auch Colas Bett leer war. Da stieg er aufs Dach, wo Cola sein Fernrohr aufbewahrte, und sogleich hörte er sie miteinander reden.
Seit Resina zehn Jahre alt geworden war, konnte sie sich nicht mehr von Cola trennen; sobald Bruder und Schwester es einzurichten vermochten, begaben sie sich irgendwohin, um miteinander zu reden. Jetzt sagte Resina zu Cola:
«So wie du mit dem Fernrohr Sterne siehst, die du vorher nicht sehen konntest, so entdecke ich, je älter ich werde, auf dem Grund des Meeres immer mehr Dinge, die ich vorher nicht gekannt habe …»
Was hatte dieses Mädchen nur für eine Phantasie!
Sie war doch noch nie im Meer gewesen! Sie war ja noch nicht einmal zum Strand hinuntergekommen! Tatsächlich war es so, dass Resina ihn einmal gefragt hatte, ob sie zum Strand hinunter dürfe, um das Meer aus der Nähe zu betrachten, doch er hatte ihr das abgeschlagen, und die Kleine hatte ihn nie wieder gefragt.
Dann, an einem Tag im Januar, machte sich Cola nach Palermo auf, um dort an der Universität zu studieren. Professor Sciortino hatte ihm in seinem Testament so viel Geld hinterlassen, dass er mindestens zehn Jahre lang fern von zu Hause für sich sorgen konnte. Gnazio begleitete ihn zum Bahnhof. Auch Resina bestand darauf, ihn zu begleiten, und sie weinte fürchterlich.
Am Bahnhof gab es jemanden, der Fotos machte. Cola und Resina ließen eines von sich gemeinsam aufnehmen. Cola hinterließ dem Fotografen seine Adresse in Palermo, und dieser sicherte ihm zu, dass er die Bilder schicken würde.
In derselben Nacht, in der ihr Bruder abgereist war, stieg Resina leise in das Dachkämmerchen hinauf. Gnazio hörte sie dennoch,
Weitere Kostenlose Bücher