Die Frau aus dem Meer
und nach einer Weile folgte er ihr. Das Fernrohr war noch da, Cola hatte es Resina überlassen. Sie sang zwar mit leiser Stimme, doch trotzdem konnte Gnazio die Worte ihres Liedes verstehen.
Es erzählte die Geschichte von einem Bruder und seiner Schwester; der Junge war inmitten der Sterne geboren und das Mädchen auf dem Grund des Meeres. Es erzählte, wie jeder der beiden dorthin zurückkehren wollte, wo sie geboren worden waren, doch das bedeutete auch, dass sie dann für immer Abschied voneinander nehmen müssten …
Gnazio wollte nicht mehr weiterhören.
Er ging wieder hinunter, legte sich hin, konnte aber kein Auge mehr zutun.
An einem Vormittag des Jahres neunzehnhunderteinundzwanzig, als er nach Vigàta gegangen war, um Obst und Gemüse zu verkaufen, hörte Gnazio, wie ihn jemand rief, der bei der Post angestellt war.
«Da ist ein Brief für Euch gekommen!»
Gnazio wunderte sich. Noch nie in seinem Leben hatte jemand ihm einen Brief geschrieben. Cola kam alle vierzehn Tage über Samstag und Sonntag nach Ninfa, er brauchte also nicht zu schreiben. Wer konnte das bloß sein?
Er hatte die Befürchtung, dass dieser Brief ihm irgendetwas Schlimmes mitteilen könnte.
«Er kommt aus Deutschland», sagte der Postangestellte.
Gnazio öffnete den Umschlag mit zitternder Hand.
Drinnen befanden sich eine Fotografie und ein auf Amerikanisch geschriebener Brief. Die Fotografie zeigte ein Haus, das ihn an etwas erinnerte. Er betrachtete das Bild lange, und plötzlich begriff er, dass dieses Haus seinem eigenen glich. Auf dem Blatt stand geschrieben:
«Lieber Signor Mancio, ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich bin Lyonel Feininger, jener Amerikaner, der im Mai 1908 das Glück hatte, Ihnen zu begegnen, Ihr Haus zu fotografieren und zu zeichnen und Ihre ungewöhnliche Familie kennenzulernen. Einige Jahre nach meiner Rückkehr nach Deutschland hatte ein Freund von mir, ein Architekt (einer von denen, die Häuser bauen, erinnern Sie sich?), der Walter Gropius heißt, die Fotografien und Zeichnungen Ihres Hauses gesehen. Diese hatten ihn dermaßen beeindruckt, dass er sie von mir geschenkt bekommen wollte. Danach hat er sie ausgiebig erforscht, und das Ergebnis ist dieses Haus, von dem ich eine Fotografie beifüge. Gropius wollte, dass ich Ihnen schreibe, um Ihnen zu danken. Ich selber bewahre eine unauslöschliche Erinnerung an den bei Ihnen und Ihrer Familie verbrachten Tag. Geht es Ihrer Frau und Ihren Kindern gut? Singen Resina und Ihre Frau immer noch? Herzliche Grüße, Lyonel Feininger.»
Natürlich erinnerte er sich an den Amerikaner, der eine Karikatur von ihm angefertigt hatte!
Auf dem Rückweg zerriss er die Fotografie und das Blatt und warf es auf die Straße.
Dieser Brief hatte ihm einen Todesschrecken versetzt.
Dann schloss Cola ein paar Jahre später seine Studien an der Universität ab.
Er kam von Palermo zurück und blieb einen ganzen Monat in seinem Haus.
Äußerlich kannte man ihn kaum wieder – er war elegant gekleidet, geschniegelt und gebügelt –, doch in seinem Herzen war er immer noch der von eh und je. Er hatte sich nicht verlobt.
Und auch Resina hatte nicht heiraten wollen, obwohl es eine große Zahl von jungen Männern gab, die sie zur Frau begehrten.
Jede Nacht stiegen Cola und Resina aufs Dach und redeten miteinander.
Gnazio ging ihnen niemals nach, um sie heimlich zu belauschen.
Als der Monat vorüber war, begleiteten Gnazio, Maruzza, Resina, Calorio und Ciccina ihn allesamt zum Bahnhof. Sie waren schön angezogen, denn diesmal reiste Cola nach Amerika ab: Er war an eine amerikanische Universität berufen worden, um das größte Teleskop der Welt zu bauen.
«Was ist denn das, ein Stileskop?»
Da erklärte Cola, dass ein Teleskop ein einhundert Milliarden mal stärkeres Fernrohr sei als das, was sein Vater ihm einst geschenkt hatte. Als er das erklärte, waren sie alle sprachlos vor Erstaunen. Nur Resina lief zu ihrem Bruder und umarmte ihn voller Glück.
Der Tag kam, da entschloss sich Gnazio, nicht mehr nach Vigàta zu gehen. An seiner Stelle sollte Calorio dort Obst und Gemüse verkaufen. Er selbst mochte es nicht mehr, nicht wegen seines Alters, obwohl er inzwischen über siebzig Jahre alt war, sie aber keineswegs zeigte, sondern weil seit einiger Zeit Leute durch die Orte zogen, die ihm nicht gefielen. Sie trugen schwarze Hemden, die oben ein Totenkopfabzeichen hatten, sie grüßten sich, indem sie den rechten Arm mit ausgestreckter Hand hoben,
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