Die Frau des Germanen
ihre Angst gab es keinen Trost. Trotzdem beschloss Hermut, in ihrer Nähe zu bleiben. So lange, bis man sie holen kam. Und
wenn man ihn hier bemerkte? Wenn es ihm so ergehen würde wie Thusnelda? Hermut wurde von einer bleiernen Gleichgültigkeit
erfasst, von einer Müdigkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Er ließ sich auf die Erde sinken und lauschte auf Inajas
Atem, auf das Rauschen der Stimmen, das aus dem Theater bis in die Katakomben drang.
Dann plötzlich erstarb es. Kein Geräusch mehr drang nach unten. Es war, als hielte das Amphitheater den Atem an.
Hermut erschrak. »Thusnelda!«
Er erhob sich wieder und starrte den Gang entlang. Was war |418| mit ihr geschehen? Wohin hatte man sie gebracht? War die Zuhörerschaft erstarrt, weil ihnen die Frau des Verräters vorgeführt
wurde? Weil es viele Jahre nach der Varus-Schlacht endlich Rache geben konnte? Nicht nur an Arminius’ Sohn, sondern auch an
der Frau, die mit ihm verheiratet war!
»Inaja! Ich habe sie im Stich gelassen!«
Aus Inajas Verlies drang kein Laut mehr.
»Das Versprechen, das ich Arminius gegeben habe. Das große Ziel!«
In diesem Moment drang ein gellender Schrei an sein Ohr. Der Schrei einer Frau in höchster Not.
Severina schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Angst hatte sie, wie sie noch nie Angst empfunden hatte. Und noch nie war
sie derart schwach und hilflos gewesen.
»Silvanus!«
Aber ihr Sohn hörte nicht auf sie. Nachdem die Balustrade überwunden und er in die Arena gesprungen war, hatte er sich nicht
mehr zu seiner Mutter umgesehen. Langsam und besonnen war er auf Thumelicus zugegangen, hatte den weißen Löwen dabei im Auge
behalten, den Thumelicus vor lauter Verblüffung nicht mehr beachtete.
Das Volk auf den Rängen tobte. Warum der junge Großneffe des Kaisers sich in diese Gefahr begab, verstand niemand, aber die
Sensationsgier war in diesem Augenblick wichtiger als die Antwort auf diese Frage. Auf den untersten Rängen jedoch, wo die
vornehmen Familien saßen, die Adligen, die Offiziere, die reichen Kaufleute, bedachte man sich mit bedeutungsvollen Blicken.
Einer nickte dem anderen zu, zwinkerte, grinste, Frauen flüsterten aufgeregt, Männer beugten sich gespannt vor. Niemand konnte
jedoch hören und verstehen, was Silvanus zu Thumelicus sagte. Nur Thusnelda!
Silvanus hielt Thumelicus das Schwert hin. »Es gehört dir. Unser Vater hat es für dich vorgesehen. Für dich! Nicht für seinen
erstgeborenen Sohn.«
|419| »Sperrt den Löwen ein!«, schrie Severina gellend. »Weg mit der Bestie! Weg! Weg!«
Die Tür, die am weitesten von dem weißen Löwen entfernt war, öffnete sich. Ein Wärter erschien, der einen fragenden Blick
zur kaiserlichen Loge warf.
»Fangt sie ein, die Bestie! Wenn meinem Sohn auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird …!«
Immer noch wagte der Wärter nicht zu reagieren. Unschlüssig stand er da, machte einen Schritt vor, dann wieder zwei Schritte
zurück.
»Meine Mutter glaubt, dass ich meinen Vater nicht kenne«, sagte Silvanus in diesem Moment. »Aber ich weiß, dass ich der Sohn
eines germanischen Fürsten bin. Genau wie du!«
»Sperrt den Löwen ein!« Severinas Stimme kippte über, als Thumelicus das Schwert in Empfang nahm.
»Wenn es um die Rache an Arminius geht«, sagte Silvanus, »dem Fürsten der Cherusker, dem Sieger über Varus, dem Bezwinger
Roms … wenn es um unseren Vater geht, dann müssen wir beide kämpfen.«
»Es geht auch um meine Mutter«, sagte Thumelicus und drehte sich dem Löwen zu, der langsam näher kam.
Prompt stellte Silvanus sich an seine Seite und beobachtete das Tier genauso aufmerksam und intensiv wie Thumelicus. »Ich
kämpfe auch mit dir zusammen für deine Mutter«, sagte er leise, so leise, das ihn außer Thusnelda niemand verstand. »Gleichzeitig
kämpfe ich auch für meine Mutter. Sie hat viel wieder gutzumachen. Und irgendwann wird sie dankbar dafür sein, dass sie in
diesem Moment die Gelegenheit dazu bekommt.«
Endlich entschloss sich der Kaiser zu einer müden Geste. Mehrere Wärter erschienen nun mit großen Netzen in der Arena. Vorsichtig
näherten sie sich dem Löwen, zuckten zurück, sobald er eine Bewegung in ihre Richtung machte, und versicherten sich immer
wieder mit einem Blick zur kaiserlichen Loge, dass sie das taten, was der Kaiser von ihnen erwartete.
|420| »Fangt ihn! Sperrt ihn ein!«, brüllte Severina. »Ich lasse euch alle kreuzigen, wenn meinem Sohn etwas
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