Die Frau des Germanen
jetzt geschah? Dann eine schnelle Erkenntnis, die ihr zeigte, dass sie noch lebte, nicht nur im Augenblick, sondern auch in
der Erinnerung. Ja, die Gefangene in den Katakomben war tatsächlich Inaja gewesen. Inaja in Rom! Inaja dem Tode geweiht! Was
war nur geschehen? Aber so bedeutsam wie die Frage konnte die Antwort nicht mehr sein. Fragen gab es noch, Antworten nicht
mehr.
Auf der gegenüberliegenden Seite wurde eine Tür geöffnet, Thumelicus betrat die Arena. Groß, stark und schön! So schön, dass
man ihn nur lieben oder … hassen konnte. Mit einem lächerlichen Krummdolch in der Hand trat er auf sie zu. Das Schwert seines
Vaters, Thusneldas letzte lebendige Hoffnung, sie lag in Severinas Händen. Ihr Leben, ihre Hoffnung, ihr Sterben – alles gehörte
Severina. Auch Thumelicus, sein Leben und sein Sterben. Warum hatte sie geglaubt, es gäbe etwas, was stärker war als Severina?
Thumelicus kam mit großen, ungläubigen Augen auf seine Mutter zu. Ja, die schöne Severina würde zufrieden sein. Das Entsetzen
war groß genug, um ihr Freude zu machen. Sie gehörte auch zu den wenigen, die hörten, dass Thumelicus leise »Mutter« sagte.
Und noch einmal: »Mutter!«
Dies war der Augenblick, in dem Thusnelda seit langer Zeit wieder an ihren Vater dachte, an Fürst Segestes, der sie verraten |414| hatte. Und an Arminius! Ihre große Liebe, der Vater ihres Sohnes, der nicht gekommen war, um sie zu befreien. Warum war er
nicht gekommen?
»Weil du es ihm nicht wert bist, sich in Gefahr zu begeben«, hatte Severina gesagt, als sie aus Baiae zurückgekehrt war. »Und
nun brauchst du nicht mehr zu warten. Arminius ist tot! So tot wie deine Freundin Gaviana!«
Noch immer lag Stille über den Rängen. Erst als das eiserne Gitter hochgezogen wurde, hinter dem der weiße Löwe wartete, schlug
die Stimmung um, der Jubel setzte ein, die Freude auf einen spektakulären Kampf. Arminius’ Sieg über Rom war zwar verschmerzt,
aber nicht vergessen. Dass der Sohn des Verräters und dessen Mutter nun in der Arena eines römischen Amphitheaters ein schreckliches
Ende fanden, gefiel allen. Und die außergewöhnliche Spielregel wurde schnell von jedem erfasst. Denn Thumelicus tat genau
das, was von ihm erwartet wurde. Er stellte sich vor seine Mutter und breitete die Arme aus.
Der weiße Löwe näherte sich vorsichtig, das Geschrei des Publikums schien ihn zu verunsichern. Thumelicus fixierte ihn und
machte ein paar Schritte auf ihn zu, den Krummdolch erhoben. Er wartete. Und der Löwe wartete ebenfalls. Anscheinend war er
nicht besonders hungrig. Man hatte ihm zu fressen gegeben, damit der Kampf nicht zu schnell zu Ende gehen würde. Der Löwe
sollte sich nicht auf seine Beute stürzen, um sie zu verschlingen. Das Publikum wollte spannende Angriffe und verzweifelten
Widerstand sehen.
Seit die Angst von ihr abgefallen war, seit das Entsetzen zu groß war, schossen Thusnelda Gedanken und Bilder durch den Kopf,
die die Angst verstellt hätte, die im kalten Licht der Grausamkeit jedoch klar zu erkennen waren. Sie konnte Thumelicus betrachten
und stolz auf diesen schönen, starken Sohn sein. Sie sah Thumelicus an der Seite seines Vaters durch das Cheruskerland reiten,
sah die beiden zum Thing aufbrechen, sah sie im Eingang der Teutoburg stehen und über ihr Land blicken. Deutlich |415| stand es vor ihren Augen, wie Arminius stolz einen Arm um die Schultern seines Sohnes legte.
Der Löwe öffnete den Rachen und gähnte. Dann schüttelte er sich und zog sich langsam, ohne Thumelicus aus den Augen zu lassen,
an den Rand der Arena zurück. Dort drückte er sich nun entlang, als scheute er das große sandbestreute Rund, als wollte er
sich unauffällig verhalten.
Die Zuschauer in den ersten Rängen beugten sich über die Balustrade und feuerten ihn an. »Zerreiß ihn! Greif ihn an!«
Thumelicus fixierte den Löwen, präsentierte sich ihm stets frontal. Ja, er präsentierte sich tatsächlich! Seiner Mutter wandte
er den Rücken zu, verstellte dem Löwen den Blick auf sie, als wollte er hoffen, das Tier könnte Thusnelda nicht bemerken.
Wie groß würde der Schmerz sein, wenn sie Thumelicus schreien hörte? Wenn sie sein Blut sah, sein verzerrtes Gesicht? Wenn
er sie noch einmal anblickte, ein letztes Mal? Wenn sich der Löwe über ihn hermachte, bis er dann endlich vor ihr stehen und
dem Schmerz ein Ende machen würde …
Da plötzlich ein heller Ruf, der nicht in dieses Amphitheater
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