Die Frau des Germanen
Rechtskunde, Medizin, Architektur und Vermessungskunde unterrichtet worden und hatte lange die Vortragskunst studiert, die
als Voraussetzung für einen künftigen Staatsmann galt. Die Rezitation war sehr angesehen unter den Gebildeten |409| des Landes; nur wer sie beherrschte, konnte Ansehen und Macht gewinnen. Und Silvanus beherrschte sie zu Severinas Freude wie
kein zweiter.
Sein Cousin Caligula saß neben ihm. Er galt als Thronerbe, Silvanus war einer der nächsten, die Ansprüche auf den Thron erheben
konnten. Severinas Sohn allerdings erklärte seiner Mutter unermüdlich, dass er auf keinen Fall den römischen Kaiserthron besteigen
wolle. Ihm genügte sein Platz in der römischen Gesellschaft, die ihn heraushob und damit befähigte, sich um die Ärmsten der
Armen zu kümmern, wenn ihnen kein Recht widerfuhr. Zum Ärger seiner Mutter setzte er sich sogar häufig für Sklaven ein und
hatte schon mehr als einmal die blutigen Gladiatoren-Spiele kritisiert, die dem Volk und dem Kaiser gleichermaßen wichtig
waren. Es gab Senatoren, die Silvanus gern von der Liste der Thronerben gestrichen hätten, weil sie fürchteten, dass er als
Kaiser sowohl die Spiele im Amphitheater als auch die Sklaverei abschaffen würde.
Caligula dagegen liebte die Spiele und hielt die Versklavung der Schwachen für ein legitimes Recht der Starken. Obwohl er
als kleiner Junge von seiner Mutter Agrippina gelernt hatte, einen Sklaven anständig zu behandeln, hielt er sich daran nicht
mehr. Im Gegenteil, er galt als besonders grausamer Herr. Die Strafen, die er verhängte, führten immer wieder zu Streitereien
zwischen Caligula und Silvanus.
Der junge Thronfolger erinnerte sich nicht gern an seine Eltern, weil ihn ihr Schicksal wütend machte, an vieles wollte er
sich auch nicht erinnern, weil er wusste, dass seine Mutter ihn zu einem anderen Leben gedrängt hätte. Der Gedanke an sie
bedrückte ihn, und er liebte es nicht, wenn er vom Volk stets der Sohn des allseits beliebten Germanicus genannt wurde, statt
Gaius Caesar Augustus Germanicus, der zukünftige Kaiser Caligula, dem es gleichgültig sein würde, ob das Volk ihn liebte oder
nicht. Nur in einem Punkt wollte er seinem Vater nacheifern: Er wünschte sich eine Ehefrau, wie Germanicus sie gehabt hatte.
Als sein Vater in Syrien einem Giftanschlag zum |410| Opfer fiel, war sie ihm durch freiwilligen Hungertod gefolgt. Damit wollte sie darauf aufmerksam machen, dass Germanicus keines
natürlichen Todes gestorben war. Eine solch ergebene Ehefrau wollte auch Gaius einmal an seiner Seite haben.
Thusnelda erwachte aus ihrer Ohnmacht, als sie in die Loge des Kaisers geschleppt wurde.
Tiberius warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu. »Warum bringt ihr mir dieses Weib?«
Bevor der Wärter antworten konnte, fuhr Severina auf. »Diese Sklavin gehört mir! Ich habe ihr nicht erlaubt, das Haus zu verlassen!«
»Sie hat versucht, dem blonden Gladiator eine Waffe zuzustecken!« Der Wärter hielt dem Kaiser das Schwert Arminius’ entgegen.
Tiberius betrachtete es angewidert, so wie er alles betrachtete, was ihm fremd war. »Was soll das sein?« Diese Frage richtete
er nicht an den Wärter, sondern an Thusnelda selbst.
Die Angst war mit einem Mal vergessen. »Ich war eine freie Germanin«, begann sie, »bevor mein Vater mich in die Versklavung
schickte.«
Plötzlich war wieder die Kraft in ihr, die nötig gewesen war, ihrem Vater ungehorsam zu sein und die Entscheidung für ihr
eigenes Leben selbst zu treffen, die Kraft, die sie gebraucht hatte, um zu hoffen, und die ihr half, als sie erkennen musste,
dass sie vergeblich gehofft hatte, die Kraft, die es ihr schließlich möglich gemacht hatte, darauf zu warten, ihren Sohn wiederzusehen.
Nun war nur noch die Kraft nötig, den Weg zu Ende zu gehen.
»Der blonde Gladiator, der heute gegen den weißen Löwen kämpfen soll, ist mein Sohn«, sagte sie mit klarer Stimme und wand
sich so entschieden aus dem Griff des Wärters, dass der seine Hand tatsächlich von ihrem Arm löste. »Er soll mit dem Schwert
seines Vaters sein Leben verteidigen.«
»Wie kommst du an Arminius’ Schwert?«, warf Severina ein.
|411| Thusnelda sah ihr ins Gesicht. Eine gewaltige Erleichterung durchströmte sie, als sie merkte, dass sie ihren Stolz nicht mehr
verstecken musste. Endlich konnte sie Severina vor Augen führen, dass ihr Stolz nicht gebrochen war. Auch nach zwanzig Jahren
Sklaverei nicht!
»Arminius’
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