Die Frau des Germanen
passte, wo die Stimmen schrill, aggressiv, hämisch und fordernd
waren. Dieser Ruf war anders. So hell und klar, dass er sich gegen das Publikum zu richten schien und sogar gegen den Kaiser.
Es folgte ein gellender Schrei, dann hielt es auf den Rängen niemanden mehr auf dem Sitz. Was in der Loge des Kaisers geschah,
war ungeheuerlich. Noch nie war so etwas passiert …
Aus dem Gedanken an das Ende, neben dem nichts Platz gehabt hatte, lösten sich plötzlich kleine, schnelle Gedanken, verhakten
sich in der Gegenwart und sogar in der Zeit, die so weit zurücklag, dass es Inaja erschien, als hätte sie nichts mehr mit
dieser Vergangenheit zu tun. Aber nun war Hermut bei ihr, und das Leben holte sie zurück. Den Gedanken an Gerlef hatte sie
nicht mitgenommen in ihr Verlies, die Reue, ihre Schuld und auch die Sehnsucht nicht. Jetzt aber war ihr all das nachgekommen,
und das Sterben wurde noch schwerer.
|416| »Warum Arminius?«, fragte Hermut immer wieder. »Du hast von ihm nur Gutes erfahren. Und wie konntest du glauben, dass sein
Bruder es ernst mit dir meint?«
Inaja löste ihre Fingerspitzen von seinen und zog sich in ihr Verlies zurück, wo es so finster war, dass ihr die Erinnerungen
dorthin nicht folgen konnten. Weg von Hermut, weg vom Licht, das sie gerade hinter sich gelassen hat.
»Inaja! Hast du gar nicht an Gerlef gedacht, als du uns verlassen hast?«
Nein, nicht Gerlef! Nicht nach ihm fragen! Egal, was Hermut antwortete, es würde unerträglich sein.
Hermuts Stimme versuchte ihr zu folgen, aber die Worte erreichten sie nicht mehr. »Inaja, es war schrecklich, als du von einem
Tag zum anderen nicht mehr bei mir warst. Jahrelang habe ich nach dir gesucht, überall nach dir gefragt. Aber es gab nirgendwo
eine Spur von dir. Gerlef hat dich so sehr vermisst. Später dann hat er eine Bauerntochter geheiratet, lebt auf einem Hof
in der Nähe der Teutoburg. Es geht ihm gut. Aber er spricht noch oft von dir.« Hermut klammerte sich an die Gitterstäbe, als
brauchte er Halt für seine Erinnerungen, als wäre er eigentlich zu schwach für sie. »Erst dein Verschwinden und dann Arminius’
Tod! Zuerst dachte ich, er sei an seiner Kopfverletzung gestorben. Aber dann roch jemand an seinem Silberbecher, und es war
klar, dass Gift in seinem Honigwasser gewesen war. Eigentlich hatte ich seinen Onkel in Verdacht. Arminius war Ingomar ja
schon lange ein Dorn im Auge. Er hätte nach Segimers Tod gern das Erbe seines Bruders angetreten und musste es Arminius überlassen.
Und seit Fürst Segestes die Heimat verlassen hat, steht Ingomar allein da. Nach Arminius’ Tod ist er sofort in die Teutoburg
übergesiedelt. Seitdem …«
Hermut brach ab, weil er merkte, dass er Inaja nicht mehr erreichte. Er sah nur noch ihre helle Haut und das Weiß ihrer Augen.
Sie hatte sich zurückgezogen in ihr Sterben. Das Leben drang nicht mehr zu ihr vor. Erneut hatte sie ihn allein gelassen.
Sie atmete noch, ihr Herz schlug noch … aber sie wollte nichts |417| mehr fühlen. Ihre Zeit war vorbei, weil sie wollte, dass ihre Angst endlich ein Ende hatte.
»Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass du lebst«, sagte Hermut, weil er plötzlich nicht mehr aufhören konnte zu reden.
Er kam gegen das Bedürfnis, alles auszusprechen, alles, was sich ereignet hatte, aus dem Schatten der letzten Jahre zu reißen,
nicht mehr an. »Ich habe auch geglaubt, dass Thusnelda tot ist. Und ich hatte keine Hoffnung, dass Thumelicus noch lebt. Aber
ich musste Arminius auf seinem Sterbebett versprechen, seinen Sohn zu suchen und ihm das Schwert seines Vaters zu bringen.«
Hermut starrte in die Finsternis, er sah, dass Inaja sich bewegte, sah, dass sie sich an die feuchte Wand drückte, um sich
so weit wie möglich von ihm, vom Leben, von der Vergangenheit zu entfernen. »Viele Jahre hat es gedauert, bis es mir gelungen
ist, Thumelicus’ Spur aufzunehmen. Und dann habe ich mich als Händler verkleidet und an die Tür der Römerin geklopft, die
Arminius damals in den Wald gelockt hat. Dort, so hoffte ich, würde ich in Erfahrung bringen, was aus Thumelicus geworden
ist, wo er lebt. Und dort …« Hermut schluchzte auf und klammerte sich an das Gitter, das ihn von Inaja trennte. »Dort fand
ich Thusnelda. Dort fristet sie seit Jahren als Sklavin ein schreckliches Dasein.«
Verzweifelt streckte Hermut seine Finger durchs Gitter, um Inaja zu berühren, aber sie bewegte sich ihm nicht entgegen. Für
Weitere Kostenlose Bücher