Die Frau des Praesidenten - Roman
mich weder in Spannung noch in Schrecken, eigentlich überraschte es mich nur. Und dann, nachdem ich darüber nachgedacht hatte, verwarf ich den Gedanken wieder. Meine Großmutter mochte sich in vielen Dingen auskennen, aber was das Sozialleben Achtjähriger anbelangte, hatte sie keine Ahnung. Immerhin hatte sie noch nicht einmal erkannt, dass Andrew ein Junge war.
Das Haus, in dem ich aufwuchs, bewohnten wir zu viert: meine Großmutter, meine Eltern und ich. In der väterlichen Linie war ich ein Einzelkind in dritter Generation – höchst ungewöhnlich für die damalige Zeit. Ich hätte gern Geschwister gehabt, hielt mich jedoch von klein auf mit derartigen Bemerkungen zurück – meine Mutter hatte bis zum Zeitpunkt meiner Einschulung zwei Fehlgeburten erlitten, die letzte im fünftenSchwangerschaftsmonat. Und das waren nur die Schwangerschaften, von denen ich wusste. Auch wenn die Fehlgeburten meine Eltern mit einer stillen Traurigkeit erfüllten, schien unsere Familie, so wie sie war, im Gleichgewicht. Beim Essen belegten wir jeder eine Seite des rechteckigen Tischs; den Weg zur Kirche konnten wir auf dem Bürgersteig paarweise zurücklegen; im Sommer konnten wir uns eine Packung Yummi-Freez Eis am Stiel teilen; und wir konnten Euchre oder Bridge spielen, Kartenspiele, die sie mir beibrachten, als ich zehn war, und mit denen wir uns oft die Freitag- und Samstagabende vertrieben.
Während meine Großmutter bisweilen ungehobelt sein konnte, gingen meine Eltern überaus aufmerksam und rücksichtsvoll miteinander um, und jahrelang hielt ich deren Form des Umgangs für normal, alles andere für unnormal. Meine beste Freundin seit Kindertagen war Dena Janaszewski. Sie wohnte auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und ich war regelmäßig entsetzt über die dort herrschende Grobheit und Lautstärke: Sie schrien sich über Stockwerke hinweg hinterher und brüllten aus den Fenstern; sie aßen einander absichtlich die Teller leer; Dena und ihre jüngeren Schwestern zogen sich ständig an den Zöpfen oder grapschten dem anderen an den Po; sie stürmten ins Badezimmer, wenn es gerade von einem anderen Familienmitglied benutzt wurde. Und noch schockierender, als ihren Vater einmal
gottverdammt
sagen zu hören – seine genauen Worte, als er in die Küche kam, waren »Wer hat die gottverdammte Heckenschere genommen?« –, war die Tatsache, dass weder Dena noch ihre Mutter oder Schwestern dies auch nur zu bemerken schienen.
In meiner Familie hingegen ging es ruhig zu. Gelegentlich waren meine Eltern verschiedener Meinung – ein paarmal im Jahr presste mein Vater die Lippen zu einer entschlossenen geraden Linie zusammen, oder die Augenwinkel meiner Mutter zeigten enttäuscht und verletzt herab –, doch das passierte nur selten und wenn, schien es nicht nötig, darüber zu sprechen. Ob in der Rolle des Verursachers oder des Leidtragenden, allein das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, schmerzte sie beide genug.
Mein Vater hatte zwei Leitsprüche. Der erste, dessen Ursprung ich nicht kannte, lautete: »Nur wer zu sehr verliebt in sich, der macht sich gerne öffentlich.« Der zweite stammte von Abraham Lincoln: »Was auch immer du bist, sei gut darin.« Von Beruf war mein Vater Filialleiter einer Bank, doch seine große Leidenschaft waren Brücken. Man würde es wohl als sein Hobby bezeichnen, eine heute nahezu ausgestorbene Form der Freizeitbeschäftigung, es sei denn, man zählt Im-Internet-Surfen oder mobiles Telefonieren dazu. Besonders bewunderte mein Vater die Erhabenheit der Golden Gate Bridge. Er erzählte mir einmal, dass der Bauunternehmer während der Errichtung für Unsummen ein riesiges Sicherheitsnetz darunter hatte anbringen lassen. »Das nenne ich Arbeitgeberverantwortung«, sagte er. »Dem ging es nicht nur um den Profit.« Er verfolgte genau den Bau der Mackinac Bridge in Michigan – für ihn nur die Mighty Mac – und später den der Verrazano-Narrows Bridge, die nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1964 Brooklyn und Staten Island verband und die größte Hängebrücke der Welt wurde.
Meine Eltern waren beide in Milwaukee aufgewachsen, wo sie sich 1943 in einer Eisdiele kennengelernt hatten. Meine Mutter, damals achtzehn, arbeitete in einer Handschuhfabrik, mein Vater war zwanzig und Angestellter in einer Filiale der Wisconsin State Bank & Trust. Kurz bevor sich mein Vater freiwillig zur Armee meldete, verlobten sie sich, und nach dem Krieg heirateten sie und zogen mit der Mutter meines Vaters im
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