Die Frau des Praesidenten - Roman
umzugehen weiß?
Wenn ich über mein Leben und meinen Blick auf die Welt nachdenke, komme ich mir oft vor wie ein Einsiedler in einer kleinen Hütte mit Blick auf einen großen, dunklen Wald. Schon seit meiner Kindheit lebe ich in dieser Hütte, im Schutz ihres Dachs und ihrer Wände. Ich habe immer gewusst, dass es Menschen gibt, die bedürftig sind – ich bin nicht blind ihrem Leid gegenüber, wie es mir meine Privilegien erlaubt hätten und wie mein eigener Ehemann und meine Tochter es sind. Es ist eine Feststellung und keine Wertung, wenn ich sage, dass Ella und Charlie dafür kein Bewusstsein besitzen. In gewisser Weise entschuldigt sie das; bei mir dagegen haben die weniger Glücklichen immer wieder angeklopft, sind aus dem dunklenWald, Hilfe suchend, zu mir gekommen, und ich habe sie nur selten eingelassen. Ich habe mehr als nichts getan und viel weniger, als mir möglich gewesen wäre. In warme Decken gehüllt, habe ich auf einer bequemen Couch gelegen und in den Tag hineingeträumt, und wenn ich die Unglücklichen vor meiner Hütte hörte, habe ich ihnen mal ein paar Münzen oder Essensreste überlassen, mal habe ich sie ignoriert. Dann hatten sie keine Wahl – sie mussten wieder in den Wald zurück, und wenn sie dort entkräftet zusammenbrachen, sich verirrten oder von Wölfen umstellt wurden, tat ich so, als hörte ich sie nicht meinen Namen rufen. Als ich mich als Lehrerin und später als Bibliothekarin besonders um die Kinder aus armen Familien kümmerte, dachte ich, das sei erst der Anfang, ich würde meinen Einsatz für eine bessere Gesellschaft mit der Zeit noch ausbauen, aber im Rückblick war das die Zeit meines größten Engagements. In all den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich meine Bemühungen nur aus immer größerer Distanz fortgesetzt, ist mein Einsatz immer oberflächlicher geworden, und immer mehr Kameras waren dabei, um meine guten Taten zu dokumentieren.
Ich hätte ein anderes Leben führen können, aber ich habe dieses gewählt. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass ich einen Mann geheiratet habe, der mir weder Vorwürfe macht noch meine Fehler überhaupt bemerkt. Ich habe einen Mann geheiratet, von dem ich mich positiv absetzen kann: Sicher habe ich wenig getan, aber er noch weniger – oder mehr, denn wo ich versehentlich und indirekt Leid verursacht habe, hat er es mit voller Absicht und größtem Selbstvertrauen getan.
Die Tränen, die mir seit Beginn dieses Gesprächs in den Augen gestanden haben, laufen mir endlich über die Wangen, und Charlie wischt sie mit den Daumen ab. Er beugt sich zu mir herunter und küsst meine rechte Augenbraue. »Komm schon, Baby«, flüstert er. Wenn er mir nicht jetzt schon vergeben hat, ist es nur noch eine Frage der Zeit – er wird mir vergeben, so lange das, was ich heute getan habe, eine Ausnahme bleibt. »Lindy«, sagte er, »du und ich, wir sind Werkzeuge Gottes.«
Habe ich schlimme Fehler gemacht?
Neben mir liegt mein Mann, er atmet tief und gleichmäßig, er schläft. Bevor ich aufgewacht bin, habe ich von Andrew Imhof geträumt, den immergleichen Traum: Er und ich stehen in einiger Entfernung, in unterschiedlichen Gruppen von Menschen, in einem großen, spärlich beleuchteten Raum, und ich spüre seine Gegenwart. Aber etwas war heute plötzlich anders: Nach all den Jahren der Distanz finden wir zueinander. Welch Glück! Wir sind beide schüchtern, wir sind jung, und wir gehen unbeholfen, aber ohne zu zögern aufeinander zu. Er ist stark und schön und golden, und ich trage ein rotes Kleid, das ich in Wirklichkeit nie besessen habe. Wir reden nicht viel, weil es nicht nötig ist. Und dann geschieht das Wunder – wir geben einander einen Kuss, wir küssen uns. Das ist alles, was ich mir je erträumt habe, wieder bei dir zu sein, in deinen Armen, dass das, was zwischen uns war, nicht zerstört worden ist, und vor allem nicht durch meine Schuld. Deine Lippen sind zart und behutsam, nicht drängend und fordernd wie die Zunge eines Ehemannes. Das ist alles, nur dies – deine Hand auf meinem Rücken, die Wärme deiner Brust unter deinem Hemd, unsere Gesichter sind einander nah, und unsere Vertrautheit hüllt uns ein wie ein schützender Mantel. Hätte ich dich doch heiraten können, hätten wir uns zusammen etwas aufbauen können, auf der Farm deiner Eltern oder anderswo? Damals in Riley habe ich daran nicht geglaubt, aber jetzt, wo wir zusammen sind, weiß ich, wir hätten es gekonnt. Wir reden gern miteinander, wir bringen
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