Die Frau des Seiltaenzers
erschwerte jeden Schritt. Stumm wandte Melchior sich um, reichte ihr die Hand und zog sie hinter sich her wie ein störrisches Kalb.
Endlich öffnete sich der Wald, und der Bach, der sich seit Stunden träge dahingewälzt hatte, begann gurgelnd und plätschernd dahinzufließen, als fühlte er sich seinem Ziel nahe. Mit einer Kopfbewegung wies Melchior ins Tal, als wollte er sagen: Geschafft!
Magdalena holte tief Luft. Der Anblick des Städtchens, das sich mit seinen Dächern und Tortürmen hinter einer wuchtigen Mauer versteckte, verlieh ihr neue Kraft, und sie raffte ihr Kleid undbegann bergab zu rennen. Nun war sie es, die Melchior aufforderte, es ihr gleichzutun und seine Schritte zu beschleunigen.
Flussabwärts, im Westen, war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden. Und die Wächter am Stadttor mahnten zur Eile, als sie die Fremden in einiger Entfernung kommen sahen. Dabei schlugen sie mit dem Schaft ihrer Hellebarden gegen das schwere Eisentor, dass der Lärm weithin zu hören war. Mit Mühe und Not schafften es Magdalena und Melchior noch in die Stadt.
Der Marktplatz von Ochsenfurt, auf dem sich in breiter Reihe stolze Fachwerkhäuser drängten, war übersät von hin und her eilenden, drängenden Menschen. Ein besonderes Ereignis versetzte die Bewohner der Stadt an diesem Abend in helle Aufregung: Eine Gauklertruppe hatte hinter dem Rathaus ihre Wagen und Zugtiere abgestellt und verkündet, nebst zahlreichen anderen Attraktionen werde der Große Rudolfo bei Einbruch der Dunkelheit auf einem Hanfseil den Turm des Oberen Tores besteigen, ohne Balancierstange und mit nichts in den Händen als je einer brennenden Fackel.
»Ich fürchte«, begann Melchior ganz unerwartet zu reden, während sie sich an den dicht gedrängt stehenden Menschen vorbeizwängten, »ich fürchte, wir müssen irgendwo im Freien übernachten. Geld haben wir beide nicht, nicht einmal kleinen Besitz, den wir versetzen könnten, um ein Wirtszimmer zu bezahlen.«
Magdalena, die hinter ihm blieb, während Melchior sich mit rudernden Armen vorwärtsdrängte, antwortete nicht, und Melchior glaubte schon, sie habe im Lärm seine Worte nicht verstanden, als sie ihn bei der Schulter fasste. Melchior drehte sich um.
Mit spitzem Finger und einem verschmitzten Lächeln zeigte Magdalena auf ein aus Eisen geschmiedetes Gitterwerk über einem Hauseingang mit einem rot bemalten Ochsen in der Mitte, Zunftzeichen des Wirts zum ›Roten Ochsen‹.
»Ich sagte doch, wir haben beide keinen Kreuzer, um eine Rechnung zu begleichen!« Melchior warf Magdalena einen strafenden Blick zu.
Doch die ließ sich nicht beirren und schob Melchior in Richtung des Eingangs vom ›Roten Ochsen‹.
»Was hast du vor?«, fragte Melchior sichtlich beunruhigt, während sie gemeinsam in die Wirtsstube traten. Der Schankraum war leer bis auf einen einsamen Zecher im hinteren Halbdunkel, der abwesend in den hölzernen Humpen vor ihm auf dem blanken Tisch starrte.
Hinter der Schänke, auf der ein Fass Wein und ein Glasballon mit Branntwein standen, tauchte im Kerzenlicht das versoffene Gesicht des Wirts auf. Der Mann, von gedrungener Gestalt, trug eine bauschige, schwarze Haube auf dem Kopf und ein Wams von gleicher Farbe, das in deutlichem Kontrast zu seiner auffallend hellen Hautfarbe stand.
»He, seid Ihr der Wirt des ›Roten Ochsen‹?«, fragte Magdalena forsch.
Und der Alte gab ebenso forsch zurück: »Das will ich meinen, junge Frau!« Er schien verunsichert, weil die Frau das Wort führte, während der kräftige Mann beinahe schüchtern im Hintergrund blieb.
»Dann habt Ihr doch wohl ein Quartier für uns, sei’s für eine Nacht oder zwei?«
»Magdalena!«, mahnte Melchior im Flüsterton. »Du weißt, was ich gesagt habe.«
»Lass gut sein«, entgegnete Magdalena, während der Wirt zuerst sie, dann Melchior von oben bis unten musterte.
»Sechs Pfennige für eine Kammer pro Nacht«, meinte der Alte schließlich, und mit zusammengekniffenen Augen fügte er hinzu: »Ihr könnt doch wohl bezahlen?«
Melchior trat von hinten an Magdalena heran und versuchte sie aus der Wirtsstube zu ziehen. Aber Magdalena riss sich los, trat einen Schritt auf den Alten zu und hob den Saum ihres langen Kleides hoch. Mit schnellen Fingern nestelte sie am Kleidersaum, bis die Naht aufplatzte, und zog eine Goldmünze hervor. Die legte sieauf die Theke. Und etwas schnippisch meinte sie: »Ist Eure Frage damit beantwortet?«
Mit großen Augen beugten sich der Alte und
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