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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Melchior über die blinkende Münze: ein Florentiner Goldgulden!
    »Dafür könnt Ihr bleiben, solange es Euch in meinem Haus gefällt«, entgegnete der Wirt, während Melchior Magdalena fragend ansah. »Wenn es genehm ist, wird Euch mein Weib etwas zum Essen bereiten. Ihr seid sicher hungrig von der weiten Reise. Woher kommt Ihr, wenn ich fragen darf?«
    »Aus dem Sächsischen«, kam Melchior Magdalena zuvor. Er hoffte, mit dieser Lüge ihre Spuren zu verwischen. Mit einem Lächeln ließ Magdalena die Goldmünze in einer Tasche ihres Kleides verschwinden.
    Wenig später, als sie bei Tisch saßen und Schweinepfoten und Blutwurst, stinkendem Käse und deftigem Brot zusprachen und Frankenwein aus tönernen Bechern tranken, meinte Melchior kleinlaut: »Warum hast du nicht gesagt, dass du ein kleines Vermögen mit dir herumträgst?«
    »Was hätte das geändert?« Magdalena hob die Schultern und fuhr fort: »Ich kann noch immer nicht begreifen, wie du deine Sprache wiedergefunden hast.«
    Melchior schwieg betroffen. Aber Magdalena entging nicht, dass seine Hände zitterten. Während des Essens würgte es ihn. Und wie er so dasaß, wirkte der große, kräftige Kerl scheu und schüchtern wie ein jugendlicher Scholar.
    »Tut mir leid«, versuchte Magdalena die Situation zu entspannen, »ich wollte dich nicht bedrängen. Lass uns zu den Gauklern gehen. Das wird uns beide auf andere Gedanken bringen!«
    Als sie aus dem ›Roten Ochsen‹ auf die Straße traten, empfingen sie der Lärm und das bunte Treiben des Pöbels, dem solche Belustigungen höchst willkommen waren. Selbst ehrbare Bürger genossen den Auftritt der Trommler, Trompeter und Marktschreier. Ein Ausrufer versuchte den anderen zu übertönen, als sei seineAttraktion das größte Spektakel, seit Jesus aus fünf Broten und zwei Fischen ein Mahl für fünftausend Männer gezaubert hatte, damals, vor eineinhalbtausend Jahren.
    Frauen kreischten, wenn Schweine, Hunde, Katzen und kleine Jungen im Gedränge durch ihre Beine und unter die Röcke krochen, um nach Essensresten und Abfällen zu suchen. Die lagen zuhauf auf dem Platz herum. Es stank nach Pisse, weil weder Frauen noch Männer etwas dabei fanden, an Ort und Stelle ihrem Bedürfnis nachzukommen. Wein und Branntwein, der von Marketenderinnen aus Umhängefässern für einen Pfennig kredenzt wurde, taten ihr Übriges.
    Geachtete Stadtbewohner in besserer Kleidung wurden von Lakaien begleitet, die ihrer Herrschaft mit Holzstangen den Weg bahnten und dabei derbe Flüche ausstießen. Zum Unwillen der einfachen Leute, die dies lautstark mit hämischen Sprüchen auf die Pfeffersäcke beantworteten.
    Wenn Gaukler die Stadt bevölkerten, herrschte eine gewisse Gesetzlosigkeit. Gaukler lebten gesetzlos, sie galten als vogelfrei, und ein Verbrechen an ihnen fand keinen Richter. An einem Abend wie diesem war alles erlaubt, ohne den strengen Arm des Gesetzes fürchten zu müssen.
    Ein derartiges Spektakel hatte Magdalena noch nie erlebt. Wann auch und wo? In Kindertagen hatte sie den Hof nie verlassen, und in der klösterlichen Abgeschiedenheit war jede Art von Volksbelustigung verpönt. Gaukler machten einen großen Bogen um Klöster und Konvente, weil sie damit rechnen mussten, dass man die Hunde auf sie hetzte.
    Mit großen Augen verfolgte Magdalena die Kunststücke eines gelenkigen Jongleurs, der, auf einem alten Weinfass stehend, Reifen in die Luft warf, einen nach dem anderen, und, bevor sie zu Boden fielen, auffing und abermals in die Luft schleuderte. Nicht weit entfernt hatte ein Quacksalber ein Podium aufgebaut. In halber Höhe über den Gaffern pries er in einem fremden, kaum verständlichenDialekt Wunderelexiere, seltene Kräuter mit magischen Heilkräften und schlangenförmige verdorrte Wurzeln an. Die, so behauptete er jedenfalls mit krächzender Stimme, selbst einem Hundertjährigen die Manneskraft zurückgäben. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und unter seinem knielangen, weiten Mantel ragten dürre Beine hervor, die in einer Strumpfhose steckten. Wenn er auf seinem Podium nach links und rechts stapfte, sah es aus, als stolzierte ein Storch über eine Flussaue. Verstärkt wurde der Eindruck durch einen Rabenschnabel vor der Nase, wie ihn die Pestärzte trugen, um zu verhindern, dass man ihnen zu nahe kam. Zur Belebung seines Geschäfts warf der Quacksalber ab und an kleine Säckchen mit getrockneten Pflanzen unter das Volk: Arnika, »den guten Beistand der Frauen«, Tausendgüldenkraut »gegen

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