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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Erkältungen«, Eibisch, »der die Gicht aus den Knien zieht«, und Ehrenpreis, »der die Krätze auf der Haut vertreibt wie die Märzsonne den letzten Schnee«.
    Da balgten sich die Gaffer um jedes Säckchen, das geflogen kam, und Magdalena zog Melchior mit sich fort zu einer aus Holzkisten und einem Balkengerüst errichteten Bühne. Der geschlossene rote Vorhang an einem quer gespannten Seil verbarg Geheimnisvolles und Sensationelles. Mit weiß gekalktem Gesicht und einer Spitzmütze auf dem Kopf versprach ein bunt gekleideter Ausrufer gegen Entrichtung von zwei Pfennigen einen Blick auf den Riesen von Ravenna, welcher bei Regen aus der Dachrinne trinke, sowie auf menschliche Monstren mit Riesenköpfen und auf tierische Missgeburten wie eine Kuh mit einem Leib und zwei Köpfen.
    Darüber hinaus machte er neugierig auf eine Zwergin – was heißt Zwergin – es sei die Königin des Zwergenvolks, eine von der Natur mit gerade vier Fuß Körpergröße und fünfundzwanzig Pfund Lebendgewicht bedachte Menschenfrau. Jedoch, was die Schöpfung ihr an Größe versagt habe, sei ihr an Lieblichkeit und Ebenmaß zuteil geworden. Wovon Besucher des Spectaculums sich überzeugen könnten, wenn Ihre Lieblichkeit, die Zwergenkönigin, hinter dem Vorhang ihre Kleider fallen lasse. Dabei rollte der Ausrufer so sehrmit den Augen, dass diese wie reife Pflaumen aus dem weißen Gesicht hervortraten.
    Im Nu bildete sich vor dem roten Vorhang eine Menschentraube. Jeder wollte vor dem anderen einen Blick auf die Wunder und Kuriositäten werfen.
    Magdalena war todmüde, und Melchior vermittelte auch nicht gerade den Eindruck, als ob er gewillt sei, sich weiter ins Getümmel zu stürzen. Da zeigte Magdalena mit spitzem Finger in Richtung des Oberen Torturms. Von einem schweren Gauklerwagen, dessen Eisenräder auf dem Straßenpflaster verankert waren, führte ein Seil schräg zum obersten Fenster des Turms. An dem Seil hingen in regelmäßigem Abstand flackernde Laternen, die dem ganzen Szenario ein pittoreskes Aussehen verliehen. Im aufkommenden Abendwind tanzten sie hin und her wie Glühwürmchen in einer Juninacht.
    »Ich will sehen, wie der Große Rudolfo auf dem Seil tanzt!«, rief Magdalena begeistert. Ihre Müdigkeit schien auf einmal verflogen.
    Melchior war weniger begeistert. Aber dann gab er ihrem Drängen nach.
    Um den Gauklerwagen, an welchem das Seil verankert war, herrschte große Aufregung. Ein stattlicher Mann in weißer Kleidung war unschwer als der Große Rudolfo zu erkennen. Er trug eine Bluse mit weiten Ärmeln, eine Kniehose aus dünnem Stoff, die seine Männlichkeit aufs Vorteilhafteste betonte. Seidenstrümpfe umspannten seine kräftigen Waden, und seine Füße steckten in weichem, weißem Schuhwerk, das keine feste Sohle zu haben schien.
    Der Große Rudolfo zeigte sich ungehalten, weil das Seil, auf dem er zur Turmspitze des Oberen Tors balancieren wollte, im Abendwind schwankte wie ein Baumwipfel im Herbst. Vergeblich mühten sich ein paar Männer, das Seil straffer zu ziehen, um es neu zu verankern. Mit lautem »Hau ruck!« zogen und zerrten sie, um dem Seil mehr Spannung zu verleihen, aber es wollte nicht gelingen.
    Magdalena warf Melchior einen Blick zu, als wollte sie sagen: Da fehlt ein kräftiger Mann wie du! Melchior verstand sehr wohl,was sie meinte, und noch bevor Magdalena auszusprechen wagte, was sie dachte, kam er ihr zuvor, stellte sich zu den anderen in eine Reihe und hing sich mit aller Kraft in das Seil, bis es nachgab und von Rudolfo in seiner Verankerung nachgespannt werden konnte.
    Die Umstehenden klatschten anerkennend in die Hände, und der Große Rudolfo trat auf Melchior zu und bedankte sich überschwänglich. Sein italienisch klingender Name vermochte nicht seine fränkische Herkunft zu verleugnen.
    »Er ist wohl der Stärkste hier in der Stadt«, meinte er lachend und schlug Melchior, der Rudolfo an Körpergröße deutlich überragte, auf die Schulter.
    Melchior fühlte sich geschmeichelt. Er rang nach Worten: »Heute vielleicht«, erwiderte er schließlich. »Ich bin auf der Durchreise und nächtige im ›Roten Ochsen‹.«
    »Wie dem auch sei, Fremder, du hast mir sehr geholfen. Warte hier. Vielleicht können wir nach der Vorstellung noch einen Humpen leeren.«
    Melchior hob die Schultern und wollte antworten. Aber noch ehe er dazu kam, war der Große Rudolfo in seinem Gauklerwagen verschwunden.
    Magdalena hatte die Szene ein paar Schritte entfernt beobachtet und die Einladung vernommen.

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