Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Wissenschaftler, nach einer Zauberquelle aller Märchen zu suchen, nach einem Zauberland, aus dem alle Märchen stammen. Man dachte, so wie Tomaten und Kartoffeln eindeutig aus Amerika stammen, müssen die Märchen auch ein Ursprungsland haben. Man kam schnell auf Indien. Indien verband sich in der Vorstellung der Europäer immer mit Exotik, Sinnlichkeit und Geheimnissen.
Diese Annahme ist sehr nützlich für den Aufbau von Katalogen, negiert aber die Tatsache, dass die Erde rund ist und dass der Mensch, seitdem er gelernt hat, aufrecht zu gehen, dauernd unterwegs ist.
Auch der nicht selten übertriebenen Verehrung mancherZahlen, wie 3, 5 und vor allem 7, liegt die Verwunderung über die Ähnlichkeit im Denken der Völker zugrunde. In den Märchen fast aller Völker sind drei Aufgaben zu lösen, erfüllen die Feen drei Wünsche. Es kommen drei Brüder vor, und der Sieger ist immer der jüngste, kleinste und schwächste. Den Sieg des kleinsten Bruders kann man auf zweierlei Arten interpretieren. Einmal im sozialen Kontext: Die unterdrückten Untertanen besiegen den mächtigen Herrscher oder den Feind oder das Monster. Oder einmal im biographischen Kontext: kleine Kinder können siegen, und deshalb sind Kinder, ohne ein Wort von sozialem Kampf zu verstehen, sofort solidarisch mit ihresgleichen, den Kleinen.
Aber wenden wir uns nach diesem Exkurs ins Land der Ähnlichkeiten dem Symbol im Märchen zu. Märchen sprechen mit ihren Symbolen, wie Fromm sagte, die Ursprache der Menschheit. Sie zeigen uns also, dass wir einander wegen der gemeinsamen Herkunft und Zukunft und entgegen aller Ideologien sehr nah sind. Die Märchensprache baut Brücken zwischen allen Völkern, über alle religiösen, kulturellen, ja sogar sprachlichen Unterschiede hinweg.
Es gibt kaum eine literarische Gattung, die in ihrer Verbreitung mit dem Märchen konkurrieren kann. Es gibt viele Völker, die eine bestimmte Dichtungsart oder den Roman nicht kennen, aber es gibt kaum ein Volk ohne Mythen und Märchen.
Und fragt man nach dem Grund, weshalb »Tausendundeine Nacht«, die Märchensammlung der Brüder Grimm oder die Bibel in so vielen Sprachen bekannt sind, so gibt es keine andere vernünftige Antwort, als dass diese Bücher in der Tat eine unsichtbare, aber solide Brücke zwischen den Kulturen der Erde bauen.
WELCHE BRÜCKEN BAUT DAS MÄRCHEN UND WIE?
Eine Brücke entsteht dort, wo zwei Ufer sind. Das eine Ufer ist die Stimme und das andere sollte ein oder mehrere Ohren sein.
Wir betonen zu sehr die Rolle des Erzählers und der Erzählerin und vergessen den Partner, das Publikum, die Zuhörerinnen und Zuhörer (und auch Leser und Leserinnen), ohne die ein Märchen nicht entsteht. Das Zuhören wird kaum gewürdigt, oder haben Sie von einem Preis für das beste Ohr gehört? Ich bin sicher, es wird eine Frau sein, weil Frauen durch ihre Erfahrung in der Geschichte gelernt haben, besser als Männer zuzuhören, aber das ist eine andere Geschichte, die ich bereits erzählt habe.
WAS PASSIERT BEIM ZUHÖREN?
Beim Zuhören übt der Mensch die Kunst der Imagination. Wie genau bläst der Wind, welcher Regen war das, wie fühlt sich der Sand an, was für eine flirrende Hitze herrschte auf der Straße? Welches Gesicht hatte der Held der Geschichte? Und mehr.
Anders als das Sehen, das uns alles mühelos vor Augen führt, schult das Zuhören unsere Fähigkeit, die Phantasiegebiete in unserem Hirn zu erweitern.
Hört man eine Geschichte, so wird man ermuntert, eine Fortsetzung des Geschehens zu spinnen und immer etwas schneller als das Gehörte zu sein. Man wird mutig und wählt auch ungewöhnliche Alternativen, so wie ein Schachspieler lernt, immer kompliziertere Wege zu gehen, da die einfachen bereits bekannt und vom Gegner leicht zu durchschauen sind.
EINE ERSTE BRÜCKE entsteht beim Erzählen. Sie geht vom Erzähler zu den Zuhörern und setzt dort einen hundertfachenBrückenschlag unter den Zuhörern in Gang. Beim Zuhören entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, eine Art der Verbundenheit, die beim Lesen nicht entsteht. Lesen ist wunderbar, aber es ist eine einsame Tätigkeit. Die Zuhörer einer Geschichte bilden allmählich ein Wesen, das in die Geschichte eintaucht, obwohl jeder Mensch seine einmalige, individuelle Erfahrung mit dem Gehörten macht. Und aus dieser Gemeinschaft geht eine Brücke zurück zum Erzähler. Sie vermittelt die Stimmung unter den Zuhörern (Sympathie, Apathie etc.) und lässt Veränderungsvorschläge leise
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