Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
herüberwandern, die dem Erzähler verbal oder nonverbal zeigen, in welche Richtung er gehen soll. Ein Märchen verändert sich immer durch die Begegnung mit dem Publikum.
EINE ZWEITE BRÜCKE schlagen Märchen zwischen Mensch und Natur. Sie ist eine der ältesten Brücken. Sie brachte Ordnung in das Chaos.
Nachdem sich der Mensch vom Tierreich durch seinen aufrechten Gang, durch die Arbeit seiner Hände abgehoben hatte, begann er zu beobachten. Er registrierte die Naturphänomene, sein eigenes und das fremde Verhalten, begann sich zu Traumbildern, Ängsten, Wünschen, privaten und öffentlichen Ereignissen zu äußern. Er ordnete das Wissen nach Gebieten. Das Märchen schlug Brücken zwischen diesen Gebieten, lange vor der Religion, der Geschichtsschreibung oder der Philosophie, und stellte vernünftige Zusammenhänge her, zeigte Konsequenzen und resümierte. Mit einem Wort, das Märchen stellte eine gewisse Ordnung im Chaos her. Dieses Ordnungsschaffen hat Apuleius bereit 170 n.Chr. in der Geschichte »Amor und Psyche« erzählt. Da helfen tüchtige Ameisen der Psyche, ein heilloses Chaos aus Weizen, Gerste, Hirse, Mohn, Erbsen,Linsen und Bohnen säuberlich auseinanderzuklauben, und ordnen seine Bestandteile in verschiedene Häuflein. Immer wieder wurde dieses Motiv in allen Kulturen übernommen, auch von den Brüdern Grimm. Hier steht Aschenputtel fast verzweifelt vor dem Haufen Linsen, den sie binnen weniger Stunden von der Asche befreien und säuberlich trennen muss. Hier sind es die Tauben, die Ordnung in die Dinge bringen und Aschenputtel siegen lassen.
Das Märchen verbindet diese geordneten Gebiete zu einem Ganzen, mit dem die ersten Versuche gelangen, ein komplexes Bild der Welt zu erstellen. Es ist der erste Versuch der Menschheit, eine poetische Antwort auf die Frage nach dem Sein der Welt und dem Sinn des Lebens zu geben.
Man sagt ironisch, die geschriebene Geschichte der Völker sei voller Märchen und Mythen. In Wahrheit sind die Märchen, wie Claude Lévi-Strauss nachgewiesen hat, voller Geschichte. Das Schriftliche gehörte seit seiner Entstehung immer zum Herrscher und seinen Institutionen, während das Mündliche lange, sehr lange, der einzige Ausdruck des Volkes blieb. In ihm pulsierte das Leben der kleinen Leute, ihre Sorgen und ihre Hoffnung fanden hier Platz und nicht in den Rollen und Büchern, die im Palast des Herrschers und unter seiner Aufsicht geschrieben wurden. Die Geschichte der Völker wurde bald die Geschichte der Herrscher. Eine gerechte Geschichte der Menschheit kann nicht geschrieben werden, ohne ihre mündlichen Geschichten zu berücksichtigen. In diesen Geschichten, die nicht für das Volk, sondern vom Volk erzählen, werden Märchen und Mythen eine zentrale Rolle spielen.
Das Märchen hat, wie man sieht, bei allen Themen so viele Ebenen und Schichten, die auch noch nicht bürokratischübereinandergestapelt, sondern lebendig durcheinander sind. Deshalb werden alle Versuche scheitern, das Märchen besserwisserisch in ein Korsett zu zwängen. Man kann sich der Wahrheit dessen, was in den Märchen steckt, nur annähern. Wie sonst sollte man mit einer gewachsenen Volkskunst umgehen, die in der Ruhe von Jahrtausenden meisterlich geschliffen wurde, die Geschichte, Psychologie, Traumbilder, Witz, Moral, Erziehung, Spannung und andere Bestandteile auf das raffinierteste amalgamiert hat!
EINE DRITTE BRÜCKE geht vom Märchen zum Leser/Zuhörer. Es schenkt ihm Trost. Das Märchen baut Stein für Stein eine Brücke über den Abgrund von Trauer oder Einsamkeit. Die wundersamen Abenteuer verschweigen die Abgründe nicht, sie zeigen aber immer hoffnungsvolle Auswege und bieten Vergleiche mit noch größeren Problemen und Krisen, die andere Menschen gemeistert haben. Dadurch verliert das eigene Problem ein wenig von seiner bedrohlichen Größe.
Auf diese Weise konnte das Märchen Kummer und Leid vertreiben und Menschen animieren, sich auszusprechen, nicht direkt, sondern mittels einer Geschichte, und das war nicht selten bereits der erste Schritt einer Heilung.
Es ist mit Sicherheit übertrieben, zu behaupten, Märchen würden im Orient als eine Art kollektiver Volkspsychotherapie betrachtet, aber ein Körnchen Wahrheit steckt in dieser Behauptung.
EINE VIERTE BRÜCKE besteht bekanntermaßen zwischen den Märchen eines Volkes und den Hörern und Lesern eines anderen Volkes. Eine Brücke, über die ein Chinese schnell Zugang zu Seele und Lebensweise eines Arabers, eine Deutsche zu
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